Nummer 5 lebt!
20.06.2019Nummer 5 lebt!
70 Jahre lang galt die Victoria von Calvatone als verschollen. Dann tauchte sie plötzlich in der Sankt Petersburger Eremitage wieder auf. Annäherung an eine Frau in Gold.
Die Zeit der Siege war vorbei. Als Generaloberst Alfred Jodl in der Nacht zum 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht unterzeichnete, hätte in Deutschland gewiss niemand mehr eine vergoldete Siegesgöttin gebraucht. Mehr als 60 Millionen Menschenleben; darunter allein 27 Millionen Bürger der einstigen Sowjetunion – das war die Bilanz eines von Deutschen angezettelten Krieges, der als der bis dato grausamste in die Geschichte der Menschheit einging. War es da nicht konsequent, dass irgendwann nach Ende des unvorstellbaren Infernos eine Viktoria-Statue aus der römischen Kaiserzeit auf einen sowjetischen Transporter gehievt wurde, um mit diesem die zerstörte Hauptstadt des gerade untergegangenen „Dritten Reiches“ zu verlassen?
Fast 100 Jahre lang war sie, die man in der ganzen Welt unter dem Namen Victoria von Calvatone kannte, im Alten Museum in Berlin beheimatet gewesen. Sie galt als Prachtstück der römischen Bildhauerkunst des 2. Jahrhunderts nach Christus. Dann aber war der Krieg gekommen; aus Schutz vor Luftangriffen hatte man 1939 damit begonnen, Teile der Sammlung – darunter auch die Victoria – in den Tresorraum der Neuen Münze am Molkenmarkt auszulagern. Relativ unbeschadet überstand die Figur hier die spätere Eroberung und die Kapitulation.


Doch dann, im Jahr eins nach Kriegsende, sollten sich russische Experten gezielt der Victoria von Calvatone erinnern. Eine der bedeutendsten vergoldeten Bronzestatuen aus den Beständen der Berliner Museen wurde 1946 in die damalige Sowjetunion verbracht – so wie mehr als 2,6 Millionen weitere Kulturschätze. Es schien das Ende der einzigartigen Frauenfigur zu sein, die italienische Landarbeiter einst in der Nähe der italienischen Stadt Cremona entdeckt hatten und die man fünf Jahre später, im Jahr 1841, für 9000 Österreichische Lire an die Königlichen Museen zu Berlin verkauft hatte. Größe, Qualität und Gleichgewicht – die Victoria schwebte elegant über einer Kugel, die sie mit den Zehen kaum zu berühren schien – hatten sie hier zu einem Hingucker der Antikensammlung gemacht; und zahlreiche Kopien, darunter in Rom, Moskau und Cremona, verbreiteten den Ruhm der Göttin in der ganzen Welt.
Doch nach ihrem Abtransport aus Berlin verlor sich die Spur der 170 Zentimeter großen Siegesgöttin, die einst auf einer überdachten Verbindungsbrücke zwischen Alten und Neuen Museum gestanden hatte. Als der Transport mit der Victoria nämlich ihren vorläufigen Zielort, die Eremitage in Sankt Petersburg, erreicht hatte, muss sich ein verhängnisvoller Irrtum ereignet haben: Es war vermutlich der Eile der Aktion zuzuschreiben gewesen, dass man die Bronze in Sankt Petersburg versehentlich in ein Depot für französische Plastik des 17. Jahrhunderts einlagerte.
Martin Maischberger: Die Victoria von Calvatone
Martin Maischberger, stellvertretender Direktor der Antikensammlung, über die Victoria von Calvatone, eine Statue, deren Gipsabguss im Alten Museum steht.
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Transkript
Wir stehen vor dem Gipsabguss einer antiken Statue im Alten Museum. Um welches Objekt handelt es sich?
Wir sehen hier die Bronzestatue der sogenannten Victoria von Calvatone. Vergoldete Bronze, römische Kaiserzeit, 2. Jahrhundert nach Christus. Wir können sie sogar relativ genau datieren in die Jahre zwischen 162 und 165 nach Christus aufgrund der Inschrift auf dem Himmelsglobus, auf dem die Statue steht. Die römische Siegesgöttin, geflügelt, in etwas schwebender Gestalt kommt vom Himmel herab auf den Himmelsglobus. Es handelt sich um eine typische antike Siegesgöttin, wie sie in der Tradition der griechischen Nike steht und dann von der römischen Victoria übernommen wurde. Diese spezielle Statue hat das Vorbild in einer verlorenen Statue, die in Rom auf dem Forum Romanum stand in der Curia Iulia. Nach diesem Vorbild hat ein Künstler des 2. Jahrhunderts diese Statue geschaffen. Er verbindet ältere griechische Elemente mit jüngeren römischen Stil- und Formelementen.
Was wissen wir über das Objekt?
Diese Statue wurde 1836 ausgegraben, im norditalienischen Calvatone, in der Provinz Cremona, gelangte schon fünf Jahre später per Ankauf nach Berlin. Gustav Friedrich Wagen, der damalige Direktor der Gemäldegalerie, war in Italien unterwegs, vor allem um Gemälde zu kaufen, aber hat auch die eine oder andere Antike gekauft, darunter auch das Original dieser Statue. Der Finder selbst durfte sie damals verkaufen. Sie war dann etwa hundert Jahre lang in der Berliner Antikensammlung im Alten Museum. Teilweise im Brückenübergang zwischen Altem und Neuem Museum. Sie wurde 1939 dann zu ihrem Schutz, wie die anderen Kunstwerke auch, verlagert, in ihrem Fall in die Reichsmünze am Molkenmarkt und seit 1945 war sie verschollen. Wir wussten also jahre-, jahrzehntelang überhaupt nicht, wo sie verblieben war, ob sie überhaupt noch existierte, bis dann 2016 die große überraschende Nachricht eintraf: Sie hat den Krieg überlebt, sie ist nicht, wie wir zwischenzeitlich dachten, in Moskau, sondern in Sankt Petersburg, in der Eremitage, wo sie in den Magazinen der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts die Zeit überdauert hatte, was auch die dortigen Kollegen erst ganz spät herausbekommen haben. Was wir hier hinter uns sehen ist nicht das Original, sondern ein Gipsabguss der Gipsformerei der Staatlichen Museen hergestellt im Besitz der Abgusssammlung Antiker Plastiken der Freien Universität.
Wie erkennt man, das Victoria antik ist?
Die Statue weist verschiedene Eigenheiten wie sie für antike Statuen, die lange im Boden gelegen haben, charakteristisch sind. Zum einen ist sie nicht vollständig. So wie wir sie jetzt sehen, ist sie ergänzt worden im 19. Jahrhundert. Die Flügel sind ergänzt, das ganze linke Bein ist ergänzt, auch Teile der Arme und der Hände sind ergänzt. Man muss sie sich also vorstellen als fragmentarisch, auch innerhalb des Gewandes viele Lücken, die dann von dem Restaurator im 19. Jahrhundert geschlossen worden sind. Das allein ist ein Indiz dafür, dass wir es mit einem älteren Werk zu tun haben, aber auch die Oberflächenbeschaffenheit, die vergoldete Bronze und verschiedene Eigenheiten der Technik, der Zusammensetzung der einzelnen Teile und nicht zuletzt die Ikonographie weisen ganz eindeutig darauf hin, dass es ein antikes Werk ist und kein neuzeitliches Werk nach einem antiken Werk.
Was war das für ein Gefühl, dass dieses verschollen geglaubte plötzlich wiederaufgetaucht ist?
Als wir zum ersten Mal hörten, dass die Victoria den Krieg überlebt hat, dass sie noch existierte und mehr oder weniger so den Krieg überdauert hatte, wie sie in der Vorkriegszeit im Museum in Berlin stand, war das für uns alle eine ganz große emotionale Situation. Wir können sagen, dass das wirklich unser größter Kriegsverlust ist. Also eine lebensgroße antike Statue – 1,70 m groß – mit dem Himmelsglobus in diesem Material, der vergoldeten Bronze, das ist schon etwas ganz Besonderes. Hinzu kommt noch diese Ikonographie: Die Statue der schwebenden, geflügelten Siegesgöttin, die auf einem Himmelsglobus beinahe herabtänzelt, die Inschrift, die sie ganz genau datiert in die Jahre 162 bis 165 nach Christus, all dies sind Elemente, die sie zu einem Stück der Superlative machen und entsprechend groß war unsere Erleichterung. Sie hat den Krieg überlebt, wenngleich nicht bei uns.
Wie geht es weiter?
Die Frage, wie es weitergeht in der Zukunft, ist eine hochpolitische Frage, die wir Archäologen, Museumsleute auf der sogenannten Arbeitsebene nicht entscheiden können, nicht entscheiden dürfen. Und wir sind zunächst ganz damit beschäftigt, unsere fachlichen Aufgaben zu erfüllen. Das heißt also zu erforschen, gemeinschaftlich zu erforschen, was es mit dieser Statue in der Antike auf sich hatte. Gibt es neue Erkenntnisse aus Italien, zur Ausgrabungssituation etwa? Gibt es neue Erkenntnisse aus der Technologie und aus der Restaurierungswissenschaft? Da ist einiges zu erwarten. Und noch einiges zu tun. Das wird größtenteils – wenn es nicht virtuell passiert – dann vor Ort in Sankt Petersburg passieren. Ob eines Tages die originale antike römische Victoria nach Berlin zurückkommt, das entscheidet die Politik und darüber können wir nur spekulieren oder bestenfalls Hoffnungen zum Ausdruck geben.
© SPK / Stefan Müchler & Friederike Schmidt
Anna Vilenskaja, Kunsthistorikerin an dem wohl noch immer berühmtesten Museum Russlands und unter anderem Expertin für die Victoria von Calvatone, hat für diesen historischen Fehler eine profane Erklärung: „Die Skulptur zeigt eine europäische Frauenfigur in delikater Pose; da dachten die Verantwortlichen wohl automatisch an eine französische Herkunft der vergoldeten Frau.“ Anna Vilenskaja lacht. Natürlich weiß gerade eine Expertin wie sie, dass die eigentlichen Gründe für das Verschwinden der Göttin weit komplexer gewesen sein dürften: Die römische Großplastik nämlich hatte während des langen 19. Jahrhunderts zahlreiche Veränderungen über sich ergehen lassen müssen: Berliner Restauratoren hatten ihr einst einen neuen Arm hinzugefügt, und an ihren zarten Rücken hatten sie schwere Flügel anbringen lassen. Somit dürfte die antike Herkunft der zierlichen Frauenfigur mit den außergewöhnlich langen Beinen im Jahr 1946 nur noch Fachleuten offenkundig gewesen sein. Außerdem, so Vilenskaja, die in den letzten Jahren die Ikonografie der Victoria erforscht hat, sei die Bronze damals ohne Dokumente und Inventarnummer in den Petersburger Winterpalais gekommen. Eine Identifizierung sei zu dieser Zeit also nahezu unmöglich gewesen.

Vielleicht wäre das auch weiterhin so geblieben, hätte sich nicht irgendwann Götterschwester Fortuna der Siegesgöttin angenommen: Bei Recherchen in einem Moskauer Archiv nämlich entdeckte Vilenskajas Kollegin Anna Aponasenko im Jahr 2016 Unterlagen, die Aufschluss über Schicksal und Verbleib der Victoria geben konnten. Ein Glücksfall für die internationale Museumswelt: „Von nun an war klar, dass sich die historisch so bedeutsame Statue, die laut der Moskauer Dokumente vormals die Inventarnummer 5 getragen hatte, irgendwo in den Depots der Eremitage befinden müsse. Ihre Nummer hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach in den Wirren von Krieg und Nachkrieg verloren.“
Nur so war es wohl möglich gewesen, dass die Fachwelt fast 70 Jahre nichts mehr von Nummer 5 gehört hatte. Für die Staatlichen Museen zu Berlin jedenfalls galt die Siegesgöttin als vermisst. Doch als man sie schließlich in der Eremitage ausfindig gemachte hatte, verständigte man in Sankt Petersburg nach nur kurzer Zeit die Berliner Kollegen. In einem gemeinsamen Projekt, vereinbart zwischen Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage, und Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, machte man sich im Folgenden an die Erforschung und Restaurierung der hochkarätigen Fundsache. Immer wieder reisen seither Wissenschaftler zwischen Berlin und Sankt Petersburg hin und her, um auch noch die letzten Geheimnisse der vergoldeten Frau zu lüften.
„Diese Kooperation ist immens wichtig“, sagt Anna Vilenskaja über eine Zusammenarbeit, die zwischen Deutschen und Russen noch immer außergewöhnlich erscheinen mag. Offiziell nämlich erklärte 1996 ein nationales russisches Gesetz alle deutschen Kulturgüter aus öffentlichen deutschen Sammlungen, die infolge des Zweiten Weltkrieges nach Russland abtransportiert worden waren, zu russischem Eigentum. „Kompensatorische Restitution“ lautete auf russischer Seite die Sprachregelung. Doch Gespräche und Verständigungen, die sich von politischer Seite immer wieder als schwierig erweisen, sind auf kultureller Ebene längst vollkommen normal: Seit Jahren arbeiten russische und deutsche Museen, unterstützt von der Kulturstiftung der Länder, bei der Erforschung, Restaurierung und Ausstellung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern eng zusammen; und das, obwohl davon auszugehen ist, dass die einstigen deutschen Kulturschätze nie wieder in hiesige Museumssammlungen zurückkehren werden.

So also auch bei der Victoria von Calvatone: „Je länger wir uns gemeinsam mit der Figur beschäftigten, desto mehr neue Fragen tauchten bei uns auf“, sagt die Sankt Petersburger Historikerin Anna Aponasenko über die intensive Kooperation. Am Ende habe man mehr Fragen als Antworten gehabt. Doch es hätte auch manch ein Rätsel gelöst werden können: So müsse man heute davon ausgehen, sagt Aponasenkos deutscher Kollege Martin Maischberger, Stellvertretender Direktor der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, dass die Victoria ursprünglich gar keine Flügel gehabt habe. „Die Flügel sind erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinzugefügt worden, vermutlich durch einen Restaurator in Berlin.“ Für das deutschrussische Forschungsteam ein wichtiger Befund: „Jetzt steht die interessante These im Raum“, so Maischberger, „dass die Statue ursprünglich gar nicht Victoria darstellte, sondern eine andere Göttin: Luna, Aurora oder Diana. Für die Ergänzung der Flügel und Deutung als Victoria gibt es im 19. Jahrhundert mehrere Vorläufer und Parallelen.“


Die Victoria in der Kunst
Eine Tuschezeichnung von Carlo Alghisi aus dem Jahr 1879 zeigt die Victoria ohne Flügel.
Ein solches Ergebnis wäre in der Tat wie ein Augenzwinkern der Geschichte: Eine Statue, die zum tragischen Symbol des deutsch-russischen Zerwürfnisses im 20. Jahrhundert hätte werden können und die dann doch Ausdruck einer einzigartigen Kooperation zwischen zwei wichtigen europäischen Kultureinrichtungen geworden ist, ist möglicherweise eben gar nicht eine Herrin über Sieg und Niederlage; sie steht eher für Anmut, Pracht und ein völkerverbindendes Ideal von Schönheit.
Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage, bringt das Verwirrspiel um die Victoria auf den Punkt: „Wir haben heute in der Welt so viele Probleme; da muss jeder seinen Job machen. Für Museumsleute besteht der nur darin, Objekte zu erforschen und die Ergebnisse der weltweiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Alle politischen Fragen oder die Fragen um Eigentumsrechte sind dem eindeutig nachgeordnet.“