Objektfoto Federmantel

„Im Neuanfang liegt viel Hoffnung“

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Perspektivenwechsel, ernstgenommen: Peter Birle vom Ibero-Amerikanischen Institut über das neue Verhältnis zwischen Europa und Südamerika, die Vermittlerrolle gegenüber Russland und den deutlichen Wunsch, nicht nur als Rohstofflieferant gesehen zu werden. Dem Artikel haben wir wichtige Objekte aus der Sammlung des Ethnologischen Museums zur Seite gestellt. Sie zeugen vom Interesse deutscher Forscher*innen an den indigenen Kulturen Brasiliens.

Südamerika ist zurück auf der weltpolitischen Bühne, seine Nationen spielen eine wichtige Rolle in den internationalen Handels- und Kulturbeziehungen und rücken wieder in den Mittelpunkt der deutschen Diplomatie – dass waren die Meldungen, die in vergangenen Wochen in der Presse zu lesen waren. Nach der Wahl in Brasilien und dem Staatsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Argentinien, Chile und Brasilien wird in Deutschland wieder über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Südamerika und Europa diskutiert. Peter Birle, Leiter der Forschungsabteilung sowie des Referats Forschung und Publikationen am Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin ordnet die aktuellen politischen Entwicklungen in Südamerika ein und gibt einen Ausblick auf die deutsch-brasilianischen Beziehungen unter der neuen Regierung von Lula da Silva. Kevin Hanschke hat mit ihm gesprochen.

Seit Jahren forschen Sie zu den politischen Entwicklungen in Südamerika. Was bedeutet die Wahl von Lula da Silva für Brasilien für die deutsch-brasilianischen Beziehungen?

Es herrscht großes Aufatmen, zumindest bei der Hälfte der Brasilianer. Das Land ist politisch gespalten. Für die deutsch-brasilianischen Beziehungen bedeutet die Wahl Lulas jedoch eine Rückkehr zu einer gewissen Normalität, die es durch Bolsonaro lange nicht gegeben hat. In den letzten vier Jahren ist Deutschland Brasilien auf der höheren diplomatischen Ebene aus dem Weg gegangen. Der Besuch von Scholz in Argentinien, Chile und Brasilien ist ein klares Signal, dass man die eigentlich guten Beziehungen wieder pflegen will. Für die SPD-geführte Regierung hat Lulas Wahl zudem eine ganz besondere Bedeutung, denn die Friedrich-Ebert-Stiftung hat starke Unterstützung beim Aufbau von Lulas Partido dos Trabalhadores (PT) geleistet.

Welche Themen prägten den Wahlkampf, besonders außenpolitisch?

Der letzte Wahlkampf war kein Wahlkampf der großen Themen. Er war vor allem eine Schlammschlacht zwischen den beiden Lagern. Es war ein sehr personalisierter Wahlkampf und dementsprechend ein persönlicher Erfolg Lulas, den er nur durch seine Popularität und das Schmieden einer breiten Allianz, von der demokratischen Rechten bis zu den Linken, gewinnen konnte. Deren kleinster gemeinsamer Nenner war es, Bolsonaro dieses Mal zu verhindern. Bolsonaros Agenda war ein historischer Bruch mit den seit Jahrzehnten existierenden Paradigmen der Außenpolitik. Brasilien setzte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine pragmatische Diplomatie, auf Autonomie und multipolare Beziehungen. Lulas Botschaft war es, zu diesen alten Prinzipien zurückzukehren.

Objektfoto Federkrone
Federkrone der Yuruna (Oberer Xingú, Brasilien). Erworben 1885 von Karl von den Steinen. Foto: Claudia Obrocki SMB/SPK

Welche historischen Verbindungen existieren zwischen Deutschland und dem südamerikanischen Kontinent?

Anders als Spanien und Portugal ist Deutschland in Südamerika nie Kolonialmacht gewesen. Das ist ein Vorteil. Dennoch hat Deutschland eine jahrhundertealte Geschichte in Südamerika, die mit den Fuggern in Venezuela beginnt und über die Handelsbeziehungen, über Migration, bis zum Exil im Weltkrieg reicht. Es gibt Amazonasbauern, die mit Pfälzer Akzent reden. Es gab immer wieder Migrationswellen verschiedener Gruppen. Nach Argentinien flohen viele Linke und Sozialisten in der Bismarckära. In den Dreißigerjahren kamen die, die vom Nationalsozialismus flüchteten. Und ab 1945 zog es viele ehemalige Nationalsozialisten nach Südamerika.

Welche Kontinuitäten und Brüche gibt es in den Beziehungen?

Es gibt bestimmte Bereiche, in denen Deutschland einflussreich ist. Beispielsweise das Feld der Bildung – viele Hochschulen in Brasilien und Südamerika orientieren sich am deutschen Hochschulsystem. Was das Militär angeht, haben deutsche Berater eine wichtige Rolle gespielt und auch beim Kulturaustausch.

Brüche gab es allerdings auch – zunächst der Erste Weltkrieg und dann der Zweite Weltkrieg. Nach diesem bemühte sich die Bundesrepublik ökonomische Beziehungen aufzunehmen, aber auch die DDR versuchte politische Verbindungen mit linken Regierungen zu intensivieren. Viele deutsche Unternehmen haben gerade in Brasilien Fuß fassen können. Das Land gilt als größter deutscher Industriestandort in Südamerika.

Wie eng sind die Beziehungen zwischen Russland und Brasilien?

Russland ist für Brasilien als Düngemittellieferant wichtig. Für ein Land, das sehr stark von der landwirtschaftlichen Produktion abhängig ist, ist das natürlich ein wichtiger Faktor bei der Strategiesetzung der Außenpolitik. Brasilien will weiter in der globalen Agrarproduktion expandieren. Zudem sind beide Länder in der Staatengruppe BRICS engagiert. Das heißt, das Land ist wie die anderen Mitglieder auch eine „emerging power“, die kritisch gegenüber dem westlichen Globalisierungsmodell ist und das dementsprechend auch artikuliert. Brasilien und Russland stehen da auf einer Seite und haben ein gemeinsames Interesse daran, zusammen mit anderen Ländern die globale Herrschaftsordnung zu verändern. Es gibt allerdings ebenfalls viele divergierende Punkte.

Welche Rolle spielt Brasilien in der Agendasetzung der BRICS?

In der frühen Phase eine stärkere Rolle. Die BRICS wurden während der zweiten Präsidentschaft von Lula ins Leben gerufen. Die Gewichte haben sich allerdings in den letzten Jahren verschoben. China gibt den Ton an. Bolsonaro hat keine Akzente gesetzt. Für ihn war es einfach ein Dabei-Sein gegen die Selbstisolation. Ob sich das unter Lula ändert, wird sich zeigen. Es gibt von Brasilien auch einen klar geäußerten Beitrittswunsch zur OECD, aber auch da muss man sehen, ob das vorangetrieben wird, weil Lula dem eher kritisch gegenübersteht.

Objektfoto Keramikurne
Keramikurne von der Insel Marajó (Brasilien). Erworben 1880 von Ladislau de Souza Mello et Netto. Foto: Martin Franken SMB/SPK
Objektfoto Maskenanzug
Maskenanzug der Cubeo in Form eines Jaguar (Grenzgebiet Brasilien/Kolumbien). Erworben 1907 von Theodor Koch-Grünberg. Foto: Claudia Obrocki SMB/SPK

Wie lassen sich die Ergebnisse der Südamerikareise von Bundeskanzler Olaf Scholz einordnen?

Es war erst einmal ein gutes Signal des Kanzlers. Die drei Länder, die er besucht hat, sind die, die uns gegenwärtig politisch am nächsten stehen. Für sie war es wichtig, dass Deutschland gezeigt hat, das man Lateinamerika nicht vergessen hat. Dann war es klar mit deutschen Interessen verbunden. Es waren viele Unternehmer auf der Reise dabei. Es ging um Handel und neue Wirtschaftspartnerschaften. Dann ging es auch um die Rolle der drei Länder bei der Energiewende, bei der Substitution von russischen Rohstofflieferungen, Gas, Öl, Lithium. Das Signal der deutschen Regierung ist zudem, dass man verstanden hat, dass die lateinamerikanischen Länder nicht nur auf die Rolle des Rohstofflieferanten reduziert werden möchten, sondern auch an Wertschöpfungsketten beteiligt werden müssen.

Gerade im Bezug zum Ukrainekrieg gab es starke Meinungsverschiedenheiten. Wie bewerten sie diese?

Das es in Bezug auf den Ukrainekrieg zwischen Brasilien und Deutschland unterschiedliche Ansichten. gibt, konnte eigentlich nur die jenigen überraschen, die nicht wussten, wie die traditionelle Haltung Brasilien im internationalen System ist. Brasilien war nicht bereit, den Schulterschluss mit der westlichen Allianz zu suchen, was Russland angeht. Das hat Brasilien unter Bolsonaro nicht getan, das wird es auch nicht unter Lula tun, denn das ist einfach die außenpolitische Position. Die lateinamerikanische Perspektive ist, dass alle Regierungen sagen, „das ist euer Krieg, damit wollen wir nichts zu tun haben“. Zwar haben die meisten Länder Südamerikas die internationalen Resolutionen gegen die russische Invasion unterstützt, aber die Sanktionspolitik wird nicht mitgetragen. Das hat mehrere Gründe. Aus der südamerikanischen Perspektive schwingt immer der Vorwurf mit, dass im Westen nur eine selektive Sicht darauf herrscht, was in der Welt passiert. Da wehrt man sich gegen die Darstellung von Russland als einzigem Verantwortlichen für den Krieg in der Ukraine. Es wird dabei auch immer wieder mit der Irak-Invasion der Amerikaner argumentiert. Man wirft dem Westen vor, mit zweierlei Maß zu messen. Das ist aber alles seit langer Zeit bekannt. Brasiliens Linie war da immer glasklar. Brasilien will bei solchen Konflikten neutral bleiben und eher eine Vermittlerrolle einnehmen.

Wie steht es um die multilaterale Zusammenarbeit innerhalb Südamerikas?

Auf jeden Fall führt die Wahl zu einer neuen Situation. Generell ist die multilaterale Zusammenarbeit momentan schlecht. Es hat im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine Fülle an Initiativen gegeben, die Brasilien maßgeblich vorangetrieben hat. Das hat auch schon mit den Regierungen vor Lula begonnen. Beispielsweise die UNASUR-Gründung – die Union der südamerikanischen Nationen und die CELAC – die Gemeinschaft der karibischen und lateinamerikanischen Staaten. Aber mit dem Ende der ersten „Rosa Welle“ linker Regierungen ist das alles in die Krise geraten. Brasilien ist unter Bolsonaro aus der UNASUR ausgetreten und ließ auch seine Mitarbeit in der CELAC ruhen. Beim Gipfeltreffen im Januar 2023 war Lula aber dabei und hat angekündigt, dass das Land zurück auf der regionalen und internationalen Bühne sei.

Was die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration in der Region angeht, sind die Perspektiven eher mäßig, denn die Volkswirtschaften sind stark auf die Zusammenarbeit mit externen Partnern – früher vor allem die USA und Europa, inzwischen immer stärker China und Asien - ausgerichtet. Anders als in der EU, wo der intraregionale Handel sechzig Prozent ausmacht, sind die wirtschaftlichen Interdependenzen in Lateinamerika äußerst gering und in den letzten beiden Jahrzehnten sogar zurückgegangen. Die Quote liegt mittlerweile bei unter zehn Prozent.

Welche Rolle spielen die kulturellen Beziehungen in der Außenpolitik der südamerikanischen Staaten untereinander?

Dadurch, dass die Länder sich kulturell und sprachlich sehr nahe sind, ist die kulturelle Nähe traditionell groß. Man hört gleiche Musik, man liest ähnliche Bücher, schaut dieselben Serien. Das ist aber gar nicht organisiert und läuft viel über den freien Markt. Unter der PT-Regierung lag der Fokus eher auf der Kulturpolitik im eigenen Land, um kulturelle Angebote für die arme Bevölkerung zugänglich zu machen. Das ist auch jetzt wieder eine Priorität. Das Ziel hingegen, den außenpolitischen kulturellen Austausch weiter zu institutionalisieren, ist nicht ausgeprägt.

Brasilien hat sich dazu verpflichtet, die Rechte der indigenen Völker zu schützen und ihnen ein von der westlichen Zivilisation isoliertes Leben zu ermöglichen.

Gibt es Anzeichen für eine kulturelle Integration?

Lula hat Margareth Menezes zur Kulturministerin gemacht. Sie ist eine bekannte Sängerin der Música Popular Brasileira. Die Regierung will wie früher Traditionen und Kultur anerkennen und fördern. Das war etwas, wo die Bolsonaro-Administration sehr dagegen war, gerade was auch das kulturelle Erbe und die Beteiligung der afrobrasilianischen und indigenen Kultur anging. Die neue Regierung hat dahingehen wieder eine große Offenheit. Sie will eine Politik gestalten, die auch die Vielfalt der brasilianischen Kultur anerkennt, die auch die Vielfalt unterschiedlicher Kulturpraktiken der Minderheiten anerkennt. Die Regierung Bolsonaro entfesselte einen Kulturkampf. Sie hat die Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung mit Füßen getreten und die afrobrasilianische Bevölkerung unglaublich beschimpft. Das ist Gott sei Dank vorbei. Es gibt im neuen Kabinett auch eine Ministerin für indigene Rechte.

Wie wird der Umgang mit den Ureinwohnern des Landes nun politisch behandelt?

Brasilien hat sich dazu verpflichtet, die Rechte der indigenen Völker zu schützen und ihnen ein von der westlichen Zivilisation isoliertes Leben zu ermöglichen, dementsprechend auch territoriale Ansprüche von indigenen Völker zu akzeptieren und diese Territorien zu markieren. Das ist unter den PT-Regierungen vorrangegangen und ist unter der Regierung Bolsonaro brutal abgebrochen worden. Bolsonaro hat in vielen Reden gesagt, dass er keinen Quadratzentimeter für die indigene Bevölkerung hergeben werde. Er hat sogar die Brandroder im Amazonasraum dazu aufgerufen, das Land auszubeuten. Das hat auch das Unrechtsbewusstsein vieler Akteure enorm reduziert. Staatliche Behörden zum Schutz der Indigenen wurden teilweise abgeschafft und Budgets weggekürzt. Die Regierung Lula hat sehr deutlich gemacht, dass sie das wieder ändern möchte.

Und wie wird die Sklaverei thematisiert?

Brasilien war bis 1888 ein Sklavenhalterstaat, ein großer Teil der Vorfahren der heutigen Bevölkerung wurde als Sklaven aus Afrika eingeschleppt. Erst ein Jahr vor dem Ende der Monarchie wurde die Sklaverei abgeschafft. Lange Zeit hat man in stark idealisierter Art und Weise davon gesprochen, dass die afrobrasilianische Kultur sehr harmonisch mit der weißen brasilianischen Kultur zusammenwirkt. Fakt ist aber, dass die schwarze Bevölkerung mit Blick auf die Zahlen ganz klar im Hintertreffen ist. Das sind die Gruppen, die am häufigsten Opfer von Gewalt werden, die am stärksten von Armut betroffen sind. Es hat bei den früheren Regierungen Bemühungen gegeben, bessere Zugänge für die schwarzen Bevölkerungsteile zu schaffen, insbesondere zur Bildung. Das wurde von Bolsonaro torpediert. Unter Lula wird das jetzt wieder anders. Bolsonaro hat postkoloniale Diskurse vollständig abgelehnt. Es ist damit zu rechnen, dass die Regierung Lula bereit ist, sich damit wieder intensiver auseinanderzusetzen und politische Agenden daraus abzuleiten. So interpretiere ich auch die Aufstellung des neuen Kabinetts. Trotz aller Umstände liegt im Neuanfang mit Lula viel Hoffnung.


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