Mariana Castillo Deball: Von Neugier getrieben

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Besuch bei einer der wichtigsten Künstlerinnen Mexikos

Der Tag ist noch jung, als Mariana Castillo Deball die Tür zu ihrem Atelier in Berlin-Schöneberg aufschließt. Etwas versteckt liegt es im hintersten Teil eines Gewerbehofes, in dem einst das erste Berliner Adressbuch gedruckt wurde. Ein passender Ort für eine Künstlerin, deren Familie seit Generationen eine eigene Druckerei besitzt. Vor zwei Jahren erspähte Castillo Deball, die 1975 in Mexiko geboren wurde und seit zehn Jahren in Berlin lebt, während einer U-Bahnfahrt die Räumlichkeiten. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Werkstattansicht – Mariana Castillo Deball in ihrem Atelier in Berlin-Schöneberg

Werkstattansicht – Mariana Castillo Deball in ihrem Atelier in Berlin-Schöneberg © Christoph Mack

Dem Besucher bleibt somit nur Staunen ob des Platzes, der sich hier öffnet: An einem fast wolkenlosen Frühlingstag flutet helles Sonnenlicht durch die hohen Fenster des zweigeschossigen Raumes, dessen Decke in Teilen entfernt worden ist. Eine Treppe führt hinauf zu einer Empore, deren durchscheinender Gitterrostboden Menschen mit Höhenangst Probleme bereiten dürfte. Von hier oben, wo Castillo Deball eine kleine Bibliothek eingerichtet hat, fällt der Blick wieder herab auf zahlreiche im Raum verteilte weiße Tischelemente – Inseln der Kunst, auf denen die aktuellen Projekte, manche in Modellform, manche in Originalgröße, ihrer Fertigstellung harren.

Eines dieser Projekte, die Installation „Codex Humboldt Fragment 1/Codex Azoyú Reverso“ – finanziert durch den Freundeskreis des Ethnologischen Museums –, wird bald im Humboldt Forum zu sehen sein. Ganz bewusst setzt sich das Werk mit einem Exponat aus der ethnologischen Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin auseinander. Es war Alexander von Humboldt selbst, der während seines Besuchs in Neuspanien 16 Fragmente verschiedener indigener Bilderhandschriften erwarb. Das wohl bekannteste, der „Codex Humboldt Fragment 1“ und sein später in Mexiko aufgefundener Gegenpart, der „Codex Azoyú Reverso“, stammen aus dem 16. Jahrhundert und stellen piktografische Aufzeichnungen von Steuerzahlungen dar, die die unterworfene Tlapa-Region in Guerrero an ihre aztekischen Eroberer zu liefern hatte.

„Erst als die beiden Codexfragmente 1940 miteinander verglichen werden konnten, war die Erforschung der Entwicklung des Steuersystems des Aztekenreichs über einen Zeitraum von 36 Jahren möglich“, sagt Castillo Deball, die dieses Material zu einem raumgreifenden Kunstwerk aus 320 Keramikplatten inspiriert hat, welche bald die südliche Stirnseite im Ausstellungssaal Mesoamerika bedecken werden.

„Ich arbeite für solche Projekte oder für Ausstellungen, nicht für den Kunstmarkt“, stellt Castillo Deball nach einem Rundgang durch ihr Atelier klar und nippt an einer Tasse Kaffee. Der Kunstmarkt sei ihr viel zu stressig. Seine Mechanismen scheinen auch schwer vereinbar mit ihrer Arbeitsweise – dem Weg zu folgen, den die Neugier ihr vorgibt und der sie dann immer wieder in Kontakt mit ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten wie Mathematik, Geologie, Geschichte oder Philosophie bringt.

Castillo Deballs Arbeit „Codex Humboldt Fragment 1/Codex Azoyú Reverso“ (Detail).
Castillo Deballs Arbeit „Codex Humboldt Fragment 1/Codex Azoyú Reverso“ (Detail). © Mariana Castillo Deball

Castillo Deballs Erfolg indes tut dieser Ansatz keinen Abbruch: 2012 stellte sie auf der documenta 13 aus, ein Jahr später folgte der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst. „Parergon“, die Ausstellung, die daraus erwuchs, festigte ihren Ruf als Grenzgängerin zwischen Forschung, Kunst und Kuration. Tatsächlich sind es oft die vergessenen und vernachlässigten Dinge, die ihr Interesse wecken, die Kuriositäten und Stiefkinder der Archivare, die andernfalls weggeschlossen und abseits der Öffentlichkeit in den Magazinen der Museen verstaubt wären.

Auch wenn Castillo Deballs eigene Arbeiten für „Parergon“ durchaus für sich sprechen, so können die in diesen verarbeiteten Gegenstände auch aus sich selbst heraus ungeheuerliche Geschichten erzählen: Da wäre die Totenmaske des jüdischen Malers Max Liebermann, die nach dessen Tod 1935 ausgerechnet vom Nazi-Bildhauer Arno Breker abgenommen wurde; oder der Rollstuhl mit der Aufschrift „Null Problemo“, der auf einen Kunstraub aus dem Jahre 1989 anspielt: Damals hatten sich Diebe mithilfe eines ähnlichen Rollstuhls getarnt, um Carl Spitzwegs Gemälde „Der arme Poet“ aus der Berliner Nationalgalerie zu entwenden.

Das Bild einer vor allem dem Rechercheprozess verhafteten „Kuratorin der Kunst“, mit dem sich Castillo Deball spätestens seit dieser hochgelobten Ausstellung konfrontiert sieht, greift ihrer Meinung nach aber zu kurz; und ebenso will sie sich mit ihrer Arbeit nicht auf Identitäts- oder kulturelle Zugehörigkeitsfragen reduzieren lassen. So bleibt am Ende dieses Atelierrundgangs vor allem die Erkenntnis, dass Mariana Castillo Deball eine Meisterin kreativer Prozesse ist: Immer wieder nämlich zerschlägt sie Gewohntes in Scherben; und immer wieder baut sie aus eben diesen Scherben eine neue und ungewohnte Welt.

Mariana Castillo Deball

Die 1975 geborene Künstlerin studierte in den 90er-Jahren Kunst und Philosophie. Von 2002 bis 2003 absolvierte sie ein Postgraduiertenstudium in den Niederlanden, wo sie neben Berlin bis heute einen Wohnsitz hat. Nach zahlreichen Auszeichnungen wurde sie 2015 auf den Lehrstuhl für Bildhauerei an der Kunstakademie Münster berufen. Im Humboldt Forum wird ihre Installation „Codex Humboldt Fragment 1/Codex Azoyú Reverso“ zu sehen sein.


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