Auch das allerbilligste Glas kann schön sein

News from 06/07/2023

In einer früheren Glaskolbenfabrik in Weißwasser gastierte das fünfte Bauhaus-Dinner, um an den Gestalter Wilhelm Wagenfeld zu erinnern.

Personengruppe in einem Innenhof
© Matthias Ritzmann

Ein Sommerabend, wie man ihn sich französischer nicht denken kann. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer kommt, das Sakko über der Schulter, auf das alte Werksgelände, wo jahrzehntelang Glaskolben für Osram produziert wurden. Er eröffnet gemeinsam mit Sachsen-Anhalts Kulturminister Rainer Robra und SPK-Präsident Hermann Parzinger das fünfte Bauhaus-Dinner, das diesmal in einer Stadt gastiert, die untrennbar mit der deutschen Glasproduktion und vor allem zeitloser Glasgestaltung verbunden ist – Weißwasser (Oberlausitz).

Es wird um den großen Gestalter Wilhelm Wagenfeld gehen, der hier in größter Freiheit arbeiten und die Glasindustrie förmlich aus den Angeln heben konnte. Wagenfeld war zwölf Jahre künstlerischer Leiter der Vereinigten Lausitzer Glaswerke (VLG) und entwarf nicht nur, er forschte auch in seinem „künstlerischen Laboratorium“. Er ließ Modelle für Kelch- und Hohlgläser; für Teller, Schüsseln und Dosen anfertigen – Zitronenpressen inklusive. Sein „Rautenglas“-Programm, das u.a. 1937 auf der Weltausstellung in Paris den Grand Prix erhielt, steht noch heute für brauchbares und stilvolles Glas. Edel und schlicht sind seine Entwürfe, zeitlos obendrein, schön und qualitätsvoll zugleich. Wagenfeld ging es nicht um Luxusgüter für Betuchte, er wollte eine breite Käuferschicht erreichen – und schaffte das besonders mit seinen Pressglasentwürfen. Das Kühlschrankgeschirr „Kubus“, die Keksdose der Serie Heilbronn oder die Zitronenpresse „Messina“ sind überzeugender Beweis für seine Erkenntnis „Auch das allerbilligste Glas kann schön sein. Das ist der Grundsatz unserer Bestrebungen.“

Eine kleine Ausstellung mit Spitzenstücken aus dem Glasmuseum Weißwasser zeigt, wie das gelungen ist. Julia Bulk von der Wilhelm Wagenfeld Stiftung aus Bremen kommt in ihrer Dinner Speech darauf zu sprechen und sagt, dass Walter Gropius auch in Wagenfels Arbeit in Weißwasser sein Bauhaus-Ideal verwirklicht sah: „Ich versichere Ihnen, dass Sie und Ihr Werk der Modellfall dessen sind, was das Bauhaus anstrebte.“

„Das hätte Vater anders gemacht“

Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner liest an diesem Abend aus Texten Wagenfelds, die von seinem ständigen Bemühen erzählen, den Scheußlichkeiten und dem Kitsch den Kampf anzusagen, im Brauchen das Schöne zu sehen und in einer Zitronenpresse keinen Pfennigartikel, sondern ein Hausgerät, das Zweck und Sinn gleichermaßen gut erfüllen kann. Wie die Familie als Testpersonen für neue Produkte eingesetzt wurde, erzählte Wagenfelds Tochter Meike Noll-Wagenfeld, die aus der Schweiz in die Lausitz gekommen ist. Und hat gleich noch eine Episode parat: „Die heutigen Weingläser haben viel zu kleine Öffnungen. Das gibt beim Trinken keine gute Haltung. Das hätte Vater anders gemacht.“

Der Abend in der Hafenstube des Soziokulturellen Zentrums TELUX, der von „So geht Sächsisch“ ausgerichtet wird und zu dem das Hotel Kristall aus Weißwasser das Menü serviert, die Staatliche Porzellan-Manufaktur MEISSEN das Geschirr und Stölzle Lausitz die Gläser beisteuert, dieser Abend im Schein der Wagenfeld-Leuchte von Tecnolumen sah wieder Eingeweihte und Interessierte, Wissende und Neugierige, Liebhaber*innen und Expert*innen, die sich über das Bauhaus im hier und heute Gedanken machen und sich vernetzen, damit Neues entsteht. Gleichzeitig gilt es, ein Jubiläum zu feiern, denn vor 150 Jahren wurde in Weißwasser zum ersten Mal Glas geschmolzen!

Zur Geschichte der Stadt gehört mit dem Architekten Ernst Neufert auch ein weiterer Bauhäusler. Er wurde von Wagenfeld geholt, um den Produktionsablauf zu rationalisieren. Das ehemalige Zentrallager der VLG machte die Ziele konkret. Neufert plante ein sechsgeschossiges Lagerhaus mit einem tragenden Stahlskelett. Dieses Gerüst bleibt sichtbar, es ist mit Klinkersteinen ausgemauert. Auch im Inneren teilt das Gitter die Halle in Räume, die wie übergroße Regalfächer funktionieren. An das Lager schließt sich funktional eine Verladehalle mit eigenem Bahngleis an.

Während viele der Arbeiten von Wilhelm Wagenfeld im Glasmuseum Weißwasser bewahrt wurden, ist das Wannengebäude der VLG aus Neuferts Atelier inzwischen abgerissen. Das Lagergebäude, in der Stadt als Neufert-Bau bekannt, steht bis heute. Der Trägerverein Neufert-Bau Weißwasser will es erhalten und zu einem kulturellen und touristischen Anziehungspunkt aufbauen.

Zu vorgerückter Stunde zieht die Dinner-Gemeinde dann beschwingt und beseelt von dannen, um aber beim nächsten Mal wiederzukommen. Auf der Wunschliste der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt und der SPK, die die Bauhaus-Dinner organisieren, stehen Selb, Celle und Chemnitz.

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