Als Fremder das Fremde verstehen
News from 02/08/2016
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Noch bis Ende Februar läuft in der Staatsbibliothek (Haus Potsdamer Straße) die Ausstellung „Weltreise. Forster – Humboldt – Chamisso – Ottinger“. Unter einem großen blauen Zelt treffen hier Autographe, Tagebücher und Objekte von Forschungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts auf Filme und Aufzeichnungen der Berliner Künstlerin Ulrike Ottinger. Ottinger hat sich im Sommer 2014 mit Kamera und Logbuch auf die Spuren Adelbert von Chamissos begeben. 200 Jahre nach dem Schriftsteller und Forscher bereiste sie die von Wildnis geprägten Gebiete auf dem amerikanischen und asiatischen Kontinent rund um die Beringsee. Mit der 3. Internationalen Chamisso-Konferenz „Weltreisen. Aufzeichnen – Aufheben – Weitergeben“ (25. – 27 Februar 2016) findet die Ausstellung ihren fulminanten Schlusspunkt. In den rund 30 Beiträgen des dreitägigen Programms stehen ebenfalls die von Deutschland ausgehenden (Welt)reisen um 1800 im Fokus. Im Interview erzählt Dr. Jutta Weber, Kuratorin der „Weltreise“-Ausstellung und Vorsitzende der Chamisso Gesellschaft e.V., von den Gemeinsamkeiten der Weltreisenden und dem besonderen Mehrwert von Originalquellen.

Frau Dr. Weber, was verbindet die zeitgenössische Filmemacherin Ulrike Ottinger mit den Forschungsreisenden aus dem 18. und 19. Jahrhundert – Reinhold Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso?
1772 – 1799 – 1815 – 2015: In diesen 250 Jahren entstanden Tagebücher und Briefe, in denen Reiseeindrücke von Personen festgehalten werden, die der Forschung, der literarischen Welt oder der interessierten Öffentlichkeit etwas zu sagen haben. Sie zusammen zu zeigen, bietet einen besonderen Reiz. Forster, der universal gebildete Pfarrer, schreibt minutiös das Gesehene auf. Humboldt, der wissenshungrige junge Privatgelehrte, vermisst und erforscht unbekannte Welten. Chamisso, der Dichter und angehende Naturwissenschaftler, versucht als Fremder das Fremde zu verstehen. Ulrike Ottinger, der die historischen Reisebeschreibungen vertraut sind, richtet als Filmemacherin das Auge der Kamera unbeirrt auf das heute Erkennbare. Vielleicht hilft sie uns, auch die Texte der Vergangenheit neu zu entdecken?
Alle vier benutzten Text und Zeichnungen, um ihre Reisen zu dokumentieren, bei Ulrike Ottinger kommt noch Film hinzu. Was ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser drei Medien?
Im 18. und 19. Jahrhundert waren Text und Zeichnung die einzigen Ausdrucksmittel, um Erlebtes einer größeren Öffentlichkeit mitzuteilen. Auch das Formulieren von verständlichen und illustrativen Texten bedurfte besonderer Fähigkeiten. Zu den textlichen Formulierungen kommen die Skizzen und Zeichnungen. Sie konkretisieren und verbessern die Vermittlung von Erkenntnissen. Es bedarf allerdings hohen künstlerischen Könnens, um diese Erkenntnisse mit dem Medium Film sichtbar zu machen. Wir sind es gewöhnt, Texte zu lesen, Zeichnungen zu sehen und zu interpretieren. Filme bieten die zusätzliche Möglichkeit, mit eigenen Augen das von der Kamera Festgehaltene neu zu sehen.
Welche Rolle spielt das Reisen im Gesamtwerk der Reisenden?
Alle vier Reisenden gewinnen ihre besondere Sicht auf die Welt aus dem, was sie unterwegs kennenlernen konnten. Forster bezieht nachdem er u.a. James Cooks Südsee-Expedition begleitet hatte, einen Lehrstuhl für Naturgeschichte in Halle. Er korrespondiert mit Alexander von Humboldt, der wiederum mit Forsters Sohn Georg befreundet ist. Von diesem animiert begibt er sich selbst auf Reisen. Humboldt arbeitet Zeit seines Lebens an dem „Kosmos“, mit dem er nichts weniger als eine Gesamtschau seiner wissenschaftlichen Welterforschung schaffen möchte. Grundlage dafür sind die Texte seiner Reisetagebücher. Chamisso, der Alexander von Humboldt als Wissenschaftler kennenlernt, hat eine Weltreise im „Peter Schlemihl“, zwei Jahre vor der eigenen Weltreise, vorausgedichtet. Nach der Rückkehr von der Reise arbeitet er als Naturwissenschaftler und beschäftigte sich mit der Flora von großen Teilen Amerikas, der Arktis und der Südsee. Ulrike Ottingers gesamtes filmisches Schaffen basiert auf ihren ausgedehnten Reisen, die sie bisher u.a. nach China, in die Mongolei oder nach Südosteuropa führten.
Welche Chance liegt in der Möglichkeit, Originaldokumente wie Reisetagebücher und Briefe zu studieren?
Originaldokumente sind unkorrigierte, ursprüngliche Quellen. Sie können die in Publikationen als „offizielle Lesart“ eines Werks oder Lebens ausgegebenen Informationen bereichern: Mit den „direkten Informationen“, die sie enthalten, beispielsweise der das Werk flankierenden, aber nur zu sehr geringen Teilen publizierten Korrespondenz. Der Erhalt dieser Quellen ist deshalb ebenso wichtig wie ihre Einbeziehung in den wissenschaftlichen Diskurs über Personen, Werke und Ereignisse.