Rede des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, zur Eröffnung der Ausstellung „Merowingerzeit – Europa ohne Grenzen“ am 12. März 2007 in Moskau

Pressemitteilung vom 12.03.2007

Deutschland und Russland haben eine lange gemeinsame Geschichte, eine Geschichte, die nicht nur durch realpolitische Entwicklungen bestimmt ist, sondern in hohem Maß auch durch enge kulturelle Bindungen und Verbindungen. Die Literatur, die Musik, das Theater, die Bildenden Künste haben in beiden Ländern tiefe anhaltende gegenseitige Wirkung. Ein ganz wesentliches Fundament für Kunst, Kultur und Wissenschaft bilden Museen, Bibliotheken und Archive und die Menschen, die dieses kulturelle Gedächtnis aufbauen, pflegen und zugänglich machen. Sie wissen, dass Deutschland und Russland auch und vor allem Kultur ist. Sie wissen, dass das Selbstverständnis von Beziehungen nicht auf territorialen oder ethnischen Aspekten sondern auf kulturellen Aspekten beruht, durch die letztlich ein Wertekanon begründet werden kann.

Kultur braucht Wissen, braucht Geschichte und Tradition. Durch Wissen lernen wir verstehen, lernen wir Zusammenhänge begreifen. Mit der kulturellen Bildung lernen wir Maßstäbe zu setzen und uns zu orientieren – im Eigenen und im Anderen. Die Geschichte lehrt uns, dass wir auch hätten anders sein können und warum wir es nicht geworden sind. Die Tradition verbürgt, dass wir in bestimmten Lebensformen stehen, die uns geprägt haben, und uns nicht täglich neu erfinden müssen.

Nur wenn wir in die kulturelle Bildung investieren, schaffen wir die entscheidenden Voraussetzungen für die nötige Offenheit, Neues zu denken und für die nötige Wertschätzung, human zusammenzuleben. Eine ökonomisch bestimmte Weltsicht allein genügt nicht. Hinzutreten muss unser kulturelles Selbstverständnis und unsere kulturelle Dialogfähigkeit. Das ist die Seele jeder Beziehung, unsere Seele.

Durch die Barbarei des 20. Jahrhunderts wurden die glücklichen Jahre der deutsch-russischen Beziehungen jäh beendet, durch den von Deutschland ausgehenden Krieg wurden die Kulturgüter geschändet. Wir haben unsere Seele verloren. Nach all dem Unheil, nach all der Entfremdung sind uns aber gerade wegen unserer kulturellen Bildung die Defizite und die Fehlstellen wieder sehr bewusst geworden. Deutschland und Russland sind in besonderer Weise aufeinander bezogen. Es ist ein geradezu lebhaftes Interesse vorhanden, sich wieder auf gemeinsame Vorstellungen zu verständigen. „Wir schlagen eine neue weiße Seite auf“ hat Irina Antonowa in einem Interview einmal gesagt. Ja, und ich füge hinzu, nicht als Verengung des Blicks sondern in Kenntnis der historischen Dimension die Zukunft gewinnen.

Die heutige Eröffnung der Merowinger-Ausstellung ist in mehrfacher Hinsicht ein gelungener Anfang, die Seele wieder zum klingen zu bringen.

Bewusst haben wir als Titel gewählt: Merowingerzeit – Europa ohne Grenzen. Es ist die Völkerwanderungszeit vom 4. – 8. Jahrhundert, die prägend wurde für die europäische Geschichte, den Untergang der Antike besiegelte, das Entstehen neuer Reiche beförderte und einen kulturellen Aufbruch vom Ural bis zu den Küsten des Atlantiks bedeutete, durch den sich ein einheitlicher Kulturraum paradoxerweise in der Vielfalt der Kulturen ausdrückte – das, was Europa heute noch immer ausmacht. Es war aber auch die große Chance, eine hoch professionelle vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Puschkinmuseum Moskau, der Eremitage St. Petersburg, dem Russischen Historischen Museum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin zu organisieren, um eine herausragende Ausstellung und wissenschaftliche Konferenzen zu dem Thema zu realisieren.

Allen Beteiligten sei zutiefst gedankt. Ein hervorragendes Ergebnis ist erreicht worden. Die Ausstellung hat aber noch eine weitere Dimension. Ein Großteil der gezeigten Objekte ist „kriegsbedingt verlagertes“ Kulturgut aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin, Beutekunst.

Diese Bestände galten über sechzig Jahre als verschollen. Im Rahmen der Ausstellungsvorbereitungen erhielten die Berliner Wissenschaftler zum ersten Mal Zugang zu den russischen Sonderdepots und alle Unterstützung bei der Bearbeitung. Als bleibende Dokumentation erscheint ein umfangreicher Katalog in russisch, deutsch und englisch, der den Reichtum der Sammlungen, aber auch die absurde Zerrissenheit zeigt. Mit der Ausstellung sollen Transparenz, Aufklärung und Geschichtsbewusstsein erreicht werden und der Begriff „Beutekunst“ entmystifiziert werden. Die große Frage zur Zukunft der Beutekunst ist damit noch nicht gelöst. Aber die Ausstellung eröffnet Chancen im politischen Diskurs. Von beiden Seiten wurde dieser Schritt auf der Fachebene gewollt. Schon jetzt kann festgehalten werden, dass die Ergebnisse in einem sehr positiven und vertrauensvollen Arbeitsklima entstanden sind, dass die Verstärkung der Kontakte durch bilateralen Austausch erwünscht ist und dass weitere Themenausstellungen unter Einschluss der jeweiligen Sammlungsgeschichte geplant sind.

Die Fachleute nehmen hier ihr Mandat wahr, die Schätze wieder in die wissenschaftliche und öffentliche Wahrnehmung zurückzuführen. Die Chancen für weitere Schritte liegen in der öffentlichen Wirkung, die mit der Ausstellung verbunden sind.

Denn Sammlungsgeschichte ist Erkenntnisgeschichte. Die jeweiligen Sammlungen der Museen sind das geistige Tagebuch der Gesellschaft – im Geist der Aufklärung und mit dem Interesse an den historischen Wurzeln Europas gesammelt.

Ich wünsche der Ausstellung in Moskau und anschließend in St. Petersburg großen Erfolg. Ich hege die Hoffnung, dass einst der kulturelle Kontext wieder bestimmend wird für den Verbleib und nicht der Begriff der Trophäe.

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