NS-Verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut: Fünf deutsche Kultureinrichtungen restituieren 221 Bücher an die Nachfahren von Henry Torrès

Pressemitteilung vom 23.06.2025

Fünf deutsche Kultureinrichtungen haben am 26. Juni 2025 in Paris den Nachfahren des bekannten französischen Anwalts, Journalisten und Politikers Henry Torrès (1891–1966) 221 Bücher übergeben. Die Bücher hatten Torrès oder einer seiner beiden Ehefrauen gehört. Sie konnten ihnen aufgrund der enthaltenen Widmungen zugeordnet werden.

Mehrere deutsche Bibliotheken waren an der Restitution beteiligt: 95 Bände stammen aus der Staatsbibliothek zu Berlin, 93 Bände aus dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL). Hinzu kommen weitere 33 Bücher aus der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, der Universitätsbibliothek Rostock und der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz. Für die Identifikation der Bücher waren die Erkenntnisse aus dem an der Staatsbibliothek durchgeführten Forschungsprojekt „NS-Raubgut nach 1945: Die Rolle der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA)“ ausschlaggebend. Die ZwA war in der DDR die zentrale nicht-kommerzielle Stelle zur Verteilung von Bibliotheksgut wie etwa Dubletten. Darunter befand sich auch NS-Raubgut, das auf diesem Wege nach 1945 weiterverteilt wurde.

Nachdem die ersten Bücher zugeordnet worden waren, wurde anhand der zentral erfassten Provenienzdaten und der im ProvenienzWiki (https://provenienz.gbv.de/) hinterlegten Informationen rasch deutlich, dass mehrere Kultureinrichtungen betroffen waren. Das Provenienzforschungsteam der Staatsbibliothek zu Berlin hat die Vorbereitung für die gemeinsame Restitution übernommen. Es wurde dabei von der Commission pour la restitution des biens et l’indemnisation des victimes de spoliations antisémites (CIVS) unterstützt, mit der seit einigen Jahren wiederholt in Restitutionsfragen zusammengearbeitet wird. Wichtig waren dabei sowohl für die Forschung relevante inhaltliche Aspekte und die Herstellung des Kontaktes zu den Erbinnen, sowie die Begleitung der Umsetzung der Restitution.

Marion Ackermann, Präsidentin der SPK, sagt: „Diese Rückgabe ist ein Musterbeispiel der Kooperation verschiedener deutscher Kultureinrichtungen im Bereichen Provenienzforschung. Ich danke besonders auch der CIVS für ihren maßgeblichen Anteil an der Ermöglichung der Restitution.“ 

Der in Les Andelys in der Normandie geborene Henry (auch: Henri) Torrès stammte aus einer jüdischen Familie und war seit seiner Jugend politisch aktiv: Er kandidierte für verschiedene kommunistische Partei-gruppierungen, verteidigte linksextreme Aktivisten, war als Journalist für L'Humanité, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, tätig, und arbeitete gelegentlich für das Theater.

Bekannt wurde Torrès nach dem Ersten Weltkrieg als Anwalt zahlreicher gesellschaftlicher sowie politischer Prominenter. Zu seinen größten Erfolgen zählt die Verteidigung von Scholom Schwartzbard im Jahr 1927. Schwartzbard (1886–1938) hatte den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Symon Petlioura, der in Paris im Exil lebte, auf offener Straße erschossen, weil er ihn für die Pogrome in der Ukraine verantwortlich machte, bei denen er seine Familie verloren hatte. Henry Torrès erwirkte mithilfe von 80 Zeugen der Pogrome einen spektakulären Freispruch für Schwartzbard. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war er weit über Frankreich hinaus bekannt.

Torrès war von 1919 bis 1928 mit der ebenfalls jüdischen Jeanne, geb. Levylier, verheiratet, die später als Schulgründerin und letzte Ehefrau des französischen Präsidenten Léon Blum berühmt wurde. Aus der Ehe gingen zwei Söhne, Jean und Georges, hervor. Von 1930 bis 1948 war Torrès mit der Widerstandskämpferin Suzanne, geb. Rosambert, verheiratet, die nach der Trennung den französischen General Jacques Massu heiratete.

Henry Torrès stand wegen seiner jüdischen Herkunft und aufgrund seiner anwaltlichen und politischen Tätigkeiten im direkten Fokus der deutschen Besatzer. Er erzählt in seiner Autobiographie, dass die Deutschen unmittelbar nach der Besetzung von Paris 1940 und erneut im März 1941 seine Wohnung in der Avenue Hoche 38 durchsucht hätten und umfangreiche Beschlagnahmen durchführten. 

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs arbeitete Torrès an verschiedenen Stellen im Ministère de l’information der französischen Regierung. Da er infolge der deutschen Besetzung seine Arbeit für die Regierung aufgeben musste und als jüdischer Anwalt sowie Gegner der Kapitulation und des Waffenstillstands Repressalien von verschiedenen Seiten erwarten musste, floh er über mehrere Zwischenstationen in die USA. Dort lehrte er Strafrecht an der juristischen Fakultät der École Libre des Hautes Études Françaises, die während des Krieges in New York gegründet wurde, und war als Schriftsteller und Journalist aktiv. Im November 1945 kehrte er nach Frankreich zurück. Von 1948 bis 1958 war Torrès im Senat des Departement Seine für die von De Gaulle gegründete RPF-Partei (dt.: Sammlungsbewegung des französischen Volkes) vertreten. Er verstarb am 4. Januar 1966 in Paris.

Provenienzwege der Bücher aus der Sammlung Torrès

Bei den 221 in deutschen Bibliotheken/Institutionen identifizierten Exemplaren der Provenienz Torrès handelt es sich um Werke, die ihm bzw. ihm und seinen Partnerinnen vornehmlich in den 1920er und 1930er Jahren von den jeweiligen Autorinnen und Autoren, mit entsprechenden handschriftlichen Widmungen versehen, geschenkt wurden. Meist handelt es sich dabei um politische und historische Publikationen, es sind aber auch belletristische Werke und Theaterstücke vertreten. Teils stammen die Werke von jüdischen Autoren, einige weisen einen Bezug zur kommunistisch-patriotischen Grundhaltung des Empfängers auf. Häufig sprechen die Widmungsgeber Torrès als persönlichen Freund an. 

Unter den wenigen Torrès und seiner jeweiligen Ehefrau gemeinsam gewidmeten Exemplaren befinden sich beispielsweise Schriften des französischen Dichters, Novellisten und Essayisten Gabriel Faure, des namhaften Schriftstellers, Literaturwissenschaftlers und Historikers André Maurois und der unter dem Pseudonym Gabrielle Réval schreibenden Novellistin und Essayistin Gabrielle Élise Victoire Logerot.  

Von den in der Staatsbibliothek zu Berlin identifizierten 95 Exemplaren der Provenienz Torrès wurde der Großteil bereits zwischen Oktober 1946 und Dezember 1954 in den Bestand aufgenommen. Die vier Exemplare, die in der Universitätsbibliothek Rostock identifiziert wurden, waren parallel dazu (zwischen April 1951 und Juni 1952) als Tauschexemplare aus Berlin nach Rostock abgegeben worden. 

Die Forschung kennt inzwischen mehrere Wege, auf denen in der Zeit des Nationalsozialismus französischer Buchbesitz in die Vorgängereinrichtung der Staatsbibliothek, in die Preußische Staatsbibliothek, gelangte. Denkbar ist aber auch, dass sich diese Bände bei Kriegsende unter den „herrenlos“ gewordenen Beständen aufgelöster NS-Institutionen befunden haben.

Der größere Teil der jetzt identifizierten Bücher wurde ab 1960 von der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA) an verschiedene Bibliotheken verteilt: Die 19 Exemplare in der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz waren um 1960 dorthin abgegeben worden. Die 10 Exemplare aus der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden wurden erst in den Jahren 1979 bis 1982 über die ZwA erworben. Für die 93 im Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) identifizierten Exemplare kann ebenfalls von einer Vermittlung durch die ZwA in den Jahren 1979/80 ausgegangen werden. 

Weiterführende Links

zur Übersicht