Im Zweifel für das Kreuz

News vom 08.06.2017

Die Gründungsintendanten Hermann Parzinger, Neil MacGregor und Horst Bredekamp in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ, 6. Juni 2017) zur Debatte um das Kreuz auf dem Humboldt Forum

Rendering des zukünftigen Humboldt Forums mit Kreuz und Kuppel
Rendering des zukünftigen Humboldt Forums mit Kreuz und Kuppel © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/Architekt: Franco Stella

„Die Macht des Bildes liegt in seiner Unmittelbarkeit, und hier liegt auch seine Gefahr." Dieser klare Gedanke, geäußert von Gisèle Freund, bewahrheitet sich einmal mehr angesichts der jüngst entfachten Debatte um die Rekonstruktion von Kuppel und Kreuz auf dem Dach des neuen Gebäudes in der Kubatur des Berliner Schlosses. Dieser Neubau im historischen Gewand versteht sich als HUMBOLDT FORUM – als ein Prisma der Weltkulturgeschichte, als Forum der kulturellen Vielfalt, der Multiperspektivität, der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Debatte, als ein Bürgerhaus, das seine Türen allen öffnet, welche die globale Welt des 21. Jahrhunderts in ihren großen Zusammenhängen entdecken und verstehen wollen.

Der Bundestags traf am 4. Juli 2002 zwei wegweisende Entscheidungen: das Berliner Schloss mit drei seiner barocken Fassaden wiederzuerrichten und in diesem Neubau mit den beteiligten Institutionen der Staatlichen Museen zu Berlin, des Landes Berlin und der Humboldt Universität das Humboldt Forum zu gründen. Es sollte sich nicht nur als Museum verstehen, sondern im Sinne des Forums als ein weltoffenes Bürgerhaus für jedermann. Dieser Beschluss bedeutete für das Humboldt Forum, die Begegnung von Historie und Zukunft, wie es die Gestalt des Gebäudes vorgibt, als Form- und Gedankenspiel und als Chance und Herausforderung inhaltlich zu nutzen. Es war die Entscheidung der Jury des Architektenwettbewerbs von 2007/08, die einstimmig für den Entwurf Franco Stellas entschied. Dieser sah bereits die Wiedererrichtung von Kuppel und Kreuz vor. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages gab am 29. Juni 2011 seine Zustimmung für die Bereitstellung des Budgets, um diese Planungen umsetzen zu können. Mit unserer Berufung im Mai 2015 sind wir beauftragt, auf dieser Grundlage die inhaltliche Ausrichtung des Hauses gemeinsam mit den Akteuren voranzubringen. 

Es fragt sich also, wie mit diesem Gebäude umzugehen ist, das die unbequeme Geschichte genauso in sich trägt. Der Entwurf von Kuppel und Kreuz ist nicht nur ein architektonisches Meisterwerk, wie es vielleicht nur Friedrich August Stüler mit seinen außerordentlichen technischen Fähigkeiten hat leisten können. Die Zeit der Ausführung von Kuppel und Kreuz wird überschattet von der blutigen Niederschlagung des Barrikadenaufstands 1848 mit über 270 Toten auf dem Berliner Schlossplatz, den sogenannten Märzgefallenen. Insofern sind Kuppel und Kreuz eine starke Botschaft des Gottesgnadentums Friedrich Wilhelms IV., ein Wahrzeichen des Bündnisses von Hohenzollernmacht und Kirche, wie des Sieges der Reaktion. Das Kuppelkreuz ist zweifelsohne mehr als nur bauhistorisch relevant für die Schlossrekonstruktion, und es ist mehr als ein Hauptsinnzeichen des Christentums. 

Jenseits dieser mit dem Kuppelkreuz einhergehenden Zweifel an seiner Daseinsberechtigung steht die grundsätzliche Frage im Raum, ob man Kreuz und Weltkultur "unter einen Hut bringen" kann. Dass all diese Aspekte intensiv und teils auch erbittert diskutiert werden, ist Teil des Selbstverständnisses des Humboldt Forums. Denn in diesem Widerspruch liegt seine Kraft. Von Anfang an hat die Inkonsistenz von Fassade und Inhalt die Dynamik des Hauses mitbestimmt – die Welt zu verstehen, ohne die Geschichte zu leugnen. Der Bau verweist auf die historischen Umstände, unter denen die Sammlungen entstanden sind, die den Nukleus der Berliner Museumslandschaft bildeten. Zugleich macht das neu interpretierte Schlossgebäude in seiner beeindruckenden Physis erfahrbar, wie immens die wirtschaftlichen und militärischen Anstrengungen gewesen sein müssen, die jenes geistige Klima im 19. Jahrhundert ermöglichten. Dem Schloss verdanken sich das Universitätswesen und die reichen Museumssammlungen. 

Wir möchten an dieser Stelle auf eine Tradition verweisen, verfängliche Denkmäler mit problematischer Aussage nicht abzureißen und damit vergessen zu machen, sondern kommentierend zu ergänzen und neu zu interpretieren. Dass Monumente den Deutungsdualismus nicht nur aushalten können, sondern durch diesen Konflikt an Souveränität gewinnen, beweisen zwei prominente Beispiele: Zum einen das Siegestor in München, ein Triumphbogen nach dem Vorbild des Konstantinbogens, der 1840 im Auftrag Ludwigs I. errichtet wurde und dem bayerischen Heer gewidmet war. Unter dem Eindruck der Zerstörungen und des Leids stellte man das Tor nach dem 2. Weltkrieg bewusst vereinfacht wieder her. Eine zusätzliche, auf der Südseite angebrachte Inschrift vermochte den triumphalen Gestus in einen tragischen zu wandeln: "Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend." Zum anderen das 1931 als Reichskolonialehrendenkmal errichtete Monument an der Bürgerweide in Bremen, ein 10 Meter großer Elefant aus Stein des Bildhauers Fritz Behn, das an die 1.490 während des 1. Weltkriegs gefallenen Soldaten in den deutschen Kolonien erinnern sollte. Kurz nachdem Namibia 1990 seine Unabhängigkeit von südafrikanischer Besatzung feierte, wurde der Elefant zu einem Anti-Kolonial-Denk-Mal umgewidmet und bald darauf mit einer weiteren Inschrift zum Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia versehen. Im Ausland genießt dieser reflektierte Umgang Deutschlands mit der eigenen Geschichte großen Respekt. 

Der historische Schlossplatz in der Mitte Berlins ist ein verwundeter Ort: Innerhalb eines halben Jahrhunderts wurden gleich zwei aufeinanderfolgende monumentale Schlüsselbauten von stadtbildprägender Wirkung abgerissen. Nach diesen nicht umkehrbaren radikalen Entscheidungen denken wir, dass es zur Heilung dieses ideologisch und symbolisch aufgeladenen Ortes im Zentrum Berlins an der Zeit ist, auf die subtil und souverän argumentierende, konfrontative Praxis des kommentierenden Nebeneinanderstellens von Weltdeutungen zu vertrauen, die ihre Botschaft an den vollmündigen Bürger richtet und darauf vertraut, verstanden zu werden. Nur so erhalten die Heterogenität und die historischen Brüche ihre Daseinsberechtigung. Sowohl die Erinnerung an den Palast der Republik als auch an die Ereignisse des Vormärz wird ihren Platz im Humboldt Forum finden. Das Kuppelkreuz war nicht das Ende der Geschichte. Vielmehr soll es in eine große Erzählung eingebunden werden, von der Novemberrevolution 1918, dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Republik durch Karl Liebknecht, bis hin zu den monumentalen Bronzefiguren Karl Marx‘ und Friedrich Engels, die sich Mitte der 1980er Jahre auf der Ostseite des Schlossplatzes hinzugesellten. Gleich mit seiner Wiedererrichtung soll das Kuppelkreuz weitere Gesellschaft erhalten. Wir haben als Gründungsintendanz vorgeschlagen, eine getreue Nachbildung des Sanchi-Tors aus den Dahlemer Sammlungen im Außenbereich des wiedererrichteten Schlosses aufzustellen. Das antike buddhistische Monument wäre nicht nur prononcierter stilistischer Kontrapunkt vor der wilhelminischen Schlossfassade. Vielmehr würde es mit dem Schlossneubau interagieren und zudem die Botschaft des Humboldt Forums, Erlebnisraum der Weltkulturen wie der Wissenschaft zu sein, nach außen tragen. Platziert gegenüber dem Lustgarten als eine südasiatische Antwort auf das nach Westen hin orientierte frühklassizistische Brandenburger Tor, kann es den Blick gen Osten symbolisch leiten. Über den Lustgarten hinweg wirkend wäre es zudem verbindendes Element zwischen dem Humboldt Forum und der Museumsinsel. Über 2.000 Jahre alt lässt das Sanchi-Tor im Fremden und Unbekannten die vertraute Formensprache der eigenen Kultur sichtbar werden. Geradezu exemplarisch und universal steht es für die wandelbare Interaktion von Kulturräumen.

2005, zu Zeiten seiner alternativen Zwischennutzung, bekrönten den Rest des Palasts der Republik der 8 x 40 Meter große Schriftzug „ZWEIFEL" aus neonfarbenen Lettern, eingelassen in die Dachkante. Diese Installation des norwegischen Künstlers Lars Ø Ramberg sorgte damals für ein enormes Medienecho und war ein kraftvolles Statement für den Diskurs um Abriss versus Erhalt des Palastes. "Wenn man gleichzeitig nach vorne und nach hinten schaut, das heißt, sich historisch bewusst ist, dann ist Zweifel das Mantra", so der Künstler. "Zweifel ist aktuell und real und Voraussetzung, um Dinge zu ändern." Im Zwielicht des Zweifels gewinnen die Dinge an Dreidimensionalität und bleiben jenseits starrer Gewissheiten in Bewegung. Der Zweifel, allen Kulturen innewohnend, hat ein unleugbares kreatives, schöpferisches Element. Er ist das unentschiedene Schwanken zwischen mehreren Denk- oder Handlungsmöglichkeiten und ermöglicht überhaupt erst die Stufe der höheren Erkenntnis. So verstanden wird der Zweifel zum Bestandteil des philosophischen Begriffs der Kritik. Er ist ein hochwirksames Gegengift gegen voreilige Schlüsse, Vorurteile und falsche Versprechen. Der Zweifel ist es, der kultiviert und aktiviert werden sollte! In seiner dokumentierten historischen Dimension innerhalb Europas, von der antiken Skepsis über den Zweifel als Gotteslästerung im Mittelalter bis hin zu seiner Wertschätzung in der Neuzeit als Instrument der Selbstvergewisserung und des verlässlichen Wissens, wird er zu einem Schlüsselbegriff. Er ist Vorbedingung der Aufklärung wie der intellektuellen Forschung überhaupt. 

Wir schlagen daher vor, die monumentalen Leuchtbuchstaben Rambergs auf die Ostseite des Daches des Humboldt Forums zu übertragen, sollte diese bauliche Änderung statisch und technisch realisierbar sein. Als geschriebenes Wort zum Logo erklärt, entfalten die Versalien ihre größte und im besten Sinne aufdringlichste Wirkung des Denkens und Verstehens, für ein modernes Weltverständnis und für die grundlegenden Fragen der Gesellschaft an eine Zukunft in Zeiten der Globalisierung. Sie wären eine Reminiszenz an den zerstörten Palast der Republik und stünden umfassend für den Antrieb, die widerstreitende Geschichte des Ortes mit diesen beiden Elementen leitmotivisch zu begreifen. 

Es darf nicht vergessen werden, dass der Zweifel als Kernelement der preußischen Aufklärung und das Kreuz als christliches Hoheitszeichen in Berlin lange zusammengewirkt haben. Ihnen verdanken sich alle großen Forschungen und intellektuellen Auseinandersetzungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Der Zweifel war immer ein Bewohner dieses Hauses. Auf dem Dach des Humboldt Forums ständen somit zwei Grundprinzipien des kulturellen und geistigen Lebens der Stadt nebeneinander. Und auch die bauhistorische Rekonstruktion des Schlosses ist für sich genommen gebauter Zweifel, der in einem Kreuz, das an diesem Ort keine religiöse Funktion mehr hat, einen Höhepunkt findet. Insofern entsprechen sich Kreuz und Zweifel. Beide begründen das Forum der Debatte.

In diesem Rahmen gilt es, die Mehrdimensionalität der Geschichte, die Abneigung und Widerstand, aber auch Identifikation und Zustimmung gleichermaßen erzeugt, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Der Zweifel in seiner Wortgewalt, zusammen mit der mächtigen Bildwelt des Sanchi-Tors und dem Kuppelkreuz laden ein, die Welt nicht allein durch die Augen des eigenen Selbst zu betrachten. Dies ist die Botschaft des Humboldt Forums.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. am 6. Juni 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auf FAZ.net.

Weiterführende Links

zur Übersicht