Käpt`n Jacobsens Gespür für das Ende der Welt
19.01.2017Käpt’n Jacobsens Gespür für das Ende der Welt
Selbst ernannter Kapitän, Norweger, Ehrenhäuptling der Sioux. Auf Spurensuche nach Adrian Jacobsen, einem umstrittenen Pionier der Ethnographie.
Die Landschaft ist immer schon da gewesen. Ihre Geschichte reicht weit zurück vor die der Rønbecks und Jacobsens; und sie ist auch älter als die des Königs von Helgø. Die Landschaft hat alle überlebt. Die, die im Meer ertrunken sind, und die, die im Eis erfrieren mussten. In der Dämmerung sieht sie aus wie schlafende Riesen und bei Tag wie die zersprengten Reste von Atlantis. Sigbjørn Rønbeck steht am Bug eines großen Motorbootes und zeigt mit der rechten Hand in die Weite des Eismeers. „Dort drüben“, sagt er, „wurde meine Mutter geboren.“ Nach und nach tauchen aus der Morgendämmerung winzige Inselgruppen auf. Erst drei, dann zehn, dann dutzende. Manchmal sind sie kaum größer als ein Verbund von Klippen und Felsen, manchmal geben sie Raum für kleine Siedlungen.
Rønbeck schaut in die Ferne. Noch ein paar Kilometer sind es bis Risøya, einem verlassenen Eiland, gut 50 Kilometer nordöstlich der norwegischen Hafenstadt Tromsø. Hinter Risøya, sagt Rønbeck, komme eigentlich nichts mehr. Und noch ein Stück weiter, und man sei auf Spitzbergen. Risøya, das ist ein anderes Wort für das Ende der Welt. Über dieses Ende hat Rønbeck seine eigene Theorie entwickelt: „Als der Südpolbezwinger Roald Amundsen 1928 bei einem Flugzeugabsturz über dem Nordmeer ums Leben kam, da waren die Bewohner von Risøya vermutlich die Letzten, die ihn lebend am Himmel gesehen haben.“ Nach Risøya kommt oft nur der Tod.
Die Geschichten um Roald Amundsen haben den heute 63-jährigen Rønbeck lange Jahre fasziniert. Ebenso die von Fridtjof Nansen – dem Mann, der den Wettlauf zum Nordpol gewann. Als Rønbeck noch ein kleiner Junge war, da hat er ihre Geschichten verschlungen. Geschichten von norwegischen Pionieren und Abenteurern. Mit sieben Jahren machte Rønbeck eine Entdeckung: der Bibliothek seiner Mutter fand er ein Kinderbuch: „Die weiße Grenze. Abenteuer eines alten Seebären rund um den Polarkreis“. Verfasser war ein gewisser Johan Adrian Jacobsen. Rønbeck war Feuer und Flamme. Jacobsen, hatten Verwandte erzählt, war der Bruder seiner eigenen Urgroßmutter.
An diesem Tag begann Rønbecks Reise. Die großen Abenteurer waren fortan nicht mehr Produkte von Kinderträumen. Sie waren Teil seiner Familie. In dem späteren Sportmediziner Sigbjørn Rønbeck begannen Fragen zu kreisen: Wer war Adrian Jacobsen – der Mann, der im Kinderbuch beschrieben hatte, wie er als Kapitän von Grönland bis zu den entlegensten Inseln der Südsee gereist war? Als Rønbeck älter wurde, machte er sich auf die Suche. Er durchforstete Archive und Bibliotheken, und er reiste von Kanada bis weit ins Land der Morgenröte. Was er über den selbst ernannten Kapitän Johan Adrian Jacobsen herausfand, stellte ihn vor neue Fragen. Und immer mündeten sie hier: auf Risøya, dem verlassenen Eiland am Ende der Welt.
Hier wurde Adrian Jacobsen am 9. Oktober 1853 geboren. „Schon in meinen frühesten Jugendjahren“, hatte er über diese Insel geschrieben, „machte ich die Bekanntschaft des Meeres, auf dem ich fast täglich zwischen den vielen kleinen Inseln mit unseren Booten umherfuhr, um zu jagen und zu fischen.“ Die Familie ernährten er und seine zwölf Geschwister mit dem Sammeln von Vogeleiern. Das meiste Geld machten sie mit dem Handel von Gänsedaunen. Diese verkauften sie an russische Seeleute. Am Ende der Welt rückt alles zusammen: die Fjorde, die Inseln, die großen Völker. „Bis in die Zeit des Kalten Krieges hinein“, erinnert sich Rønbeck, „gab es auf der Insel eine Bäckerei. Die Brote hat man an sowjetische Handelsschiffe verkauft.“
Jacobsens Schwester, erzählt Rønbeck, während er das Boot an einem alten Holzsteg festmacht, sei mit dem König von Helgø verheiratet gewesen. Ehrfurcht liegt in der Stimme. Der König von Helgø. Mitte des 19. Jahrhunderts habe der die meisten Inseln im Nordmeer besessen. Rønbeck springt an Land. Mit seinem braunen Lederhut und seiner beigefarbenen Regenjacke sieht er jetzt selbst wie ein Weltenbummler aus. Dabei ist ihm Risøya gut vertraut. Immer wieder ist er in den zurückliegenden Jahren auf die Insel der Ahnen gefahren – hierher, wo im Winter kein Sonnenlicht hinreicht. Noch ist es Herbst. Gefrorener Tau liegt über den Gräsern. Rønbeck stapft in Richtung einer verlassenen Siedlung. Sie ist das Einzige, was an die Zeiten des großen Kapitäns erinnert. „Früher“, sagt Rønbeck, „habe ich immer geglaubt, Adrian Jacobsen sei ein Held gewesen.
Einer wie die mutigen Cowboys und Indianer aus meinen Kinderbüchern.“ Von seiner Mutter habe er gehört, wie Jacobsen 180 Tage mit einem Schlitten durch Alaska gereist sei. Mit einem Kanu habe er die Küstenlinie von British Columbia umrudert. Cowboys und Indianer, auch die habe es dort gegeben.
Aber mit den Indianern kamen die Schatten in die heldenhafte Biografie. Rønbeck schweigt. Seine Schritte knarzen, während er sich einen Weg zum weißen Kapitänshaus bahnt. Er öffnet die Tür und sieht sich in der verlassenen Wohnung um. Alles scheint noch so zu sein wie am Ende des 19. Jahrhunderts. Als wäre Jacobsen nur auf einem weiteren Abenteuer weit draußen im Meer. Aus einer Küchenschublade kramt Rønbeck ein altes Silberbesteck heraus. Eine Gravur verrät dessen Herkunft: „Carl Hagenbeck“. Der Pfad der Indianer reicht hier bis an den Esstisch heran.
Hagenbeck, Jacobsen und die Indianer. Es ist eine verworrene Geschichte. Der Norweger hatte den deutschen Zoodirektor 1877 kennengelernt; damals, als er in Hamburg sein Glück als Seemann versuchen wollte. Zwei Jahre zuvor hatte Hagenbeck ein merkwürdiges Experiment gestartet: Mitten zwischen den Rentieren und Elchen hatte er Menschen aus fremden Kulturen in seinem Tierpark zur Schau gestellt. In sogenannten Völkerschauen präsentierte er Samen aus Norwegen oder Inuit aus dem eisigen Lappland. Eine skurrile Idee. Heute schätzt man, dass sich an
der Wende zum 20. Jahrhundert 5.000 Menschen in ähnlichen Spektakeln haben ausstellen lassen. Jacobsen ließ sich von dem gut zehn Jahre älteren Tierhändler als Werber anheuern. Für Carl Hagenbeck holte er Inuit aus Grönland nach Deutschland, Inuit aus Labrador, später folgten Sioux für eine Wild-West-Show.
Die Indianer müssen derart fasziniert von dem eigenwilligen Norweger gewesen sein, dass sie ihn zu ihrem Ehrenhäuptling ernannten. Doch bei einer Anwerbetour im Jahr 1880 kam es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall: Acht Inuit, von Jacobsen aus Lappland rekrutiert, starben an einer Pockeninfektion. Noch heute wirft der tragische Vorfall bei seinem Nachfahren Fragen auf.
„Der Tod der Inuit muss Jacobsen in eine Krise gestürzt haben.“ Rønbeck ringt um Worte. Ein heikles Thema. Er verlässt das Haus, um einen großen Hügel im Hinterland zu besteigen. Von dort habe man einen besseren Überblick. „Es ist ein ethisches Dilemma“, entfährt es ihm irgendwann. „War Jacobsen ‚ein Guter‘, oder muss man seine Expeditionen verurteilen?“ In den nächsten Monaten will Rønbeck einen Film über den Verwandten drehen. Arbeitstitel: „Captain Adrian“. Er habe schon unzählige Dokumente und Manuskripte gesichtet. Alles sei sehr komplex; schließlich wolle er seinen Ahnen nicht über das ethische Maß der Gegenwart brechen. Die, so schiebt Rønbeck schnell hinterher, caste Menschen für Dschungel- und Containershows.
Mit den verhängnisvollen Ereignissen des Jahres 1880 hören die Rätsel nicht auf: Nachdem die Inuit bestattet waren, hatte sich Jacobsen daran gemacht, deren Besitz zu veräußern. Und auf diese Weise war er abermals in Kontakt zu einer Person gekommen, die den Geist jener Jahre geprägt hatte: Adolf Bastian, Gründungsdirektor des Berliner Museums für Völkerkunde und namhafter Verfechter des Evolutionismus – jener verhängnisvollen Ideologie, die davon ausging, dass die europäischen „Kulturvölker“ höher entwickelt seien als die indigenen. Im Fortschreiten der Entwicklung, so waren Leute wie Bastian überzeugt, seien die indigenen Völker dem Untergang geweiht. Mit diesem Adolf Bastian sollte Jacobsens Leben eine Wendung bekommen.
„Am Mittwoch den 27. Juli 1881“, notierte er, „erhielt ich durch Herrn Director Bastian in Berlin den Auftrag, für die Ethnologischen Sammlungen des Königlichen Museums eine mehrjährige Reise nach der Nordwestküste von Nordamerika behufs Einsammelns und Erwerbens ethnographischer Gegenstände zu unternehmen.“ Er kam in Kontakt zum Volk der Yupik und der Denaina, studierte indigene Tänze, Rituale und Theateraufführungen. Und kaufte Alltags- und Kultobjekte – vom Angelhaken bis zum Bärentanzkostüm. Als Jacobsen zwei Jahre später nach Berlin zurückkehrte, hatte er gut 7.000 Objekte gesammelt. Noch heute bilden sie das Fundament der Nordamerikasammlung im Ethnologischen Museum Berlin. Die meisten Gegenstände hatte er den indigenen Völkern abgekauft; manche aber dreist aus Gräbern und Kultstätten geklaut.
Zitat
Alle Fragen münden hier: Auf Risøya, dem verlassenen Eiland am Ende der Welt
Rønbeck setzt sich auf eine angefrorene Baumwurzel und zitiert aus dem Vorwort von Jacobsens Reisebericht: „Immer lauter und mächtiger ertönt der Mahnruf, den die Ethnologie angesichts der Tatsache erhebt, dass die Wogen unserer modernen Kultur alles überfluten und vernichten, was von den primitiven Naturvölkern noch auf Erden vorhanden ist.“ War es europäischer Überlegenheitsdünkel, der Jacobsen antrieb? Auf Risøya, wohin der Kapitän 1943 zum Sterben zurückgekehrt war, scheint die Zeit eingefroren. Die kleinen Holzhäuser und die moosbewachsenen Hügel haben in einem toten Winkel der Moderne standgehalten. Die Geschichte der Jacobsens liegt vergessen im Meer. Rønbeck will sie bergen. Anderenfalls bliebe nur die Landschaft. Die hat hier alle überlebt.