Europa liegt in Dahlem

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Das Museum Europäischer Kulturen bleibt im Berliner Südwesten und startet in eine neue Zeit. Direktorin Elisabeth Tietmeyer hat sich mit Schriftstellerin Sophie Dannenberg zu einem Rundgang getroffen.

Dahlem ist ein Ort, an dem die Moderne zur Ruhe gekommen ist. Vielleicht liegt das daran, dass die Gärten so alt sind und die Studenten so jung oder dass die Stimmen in den langen, schmalen Straßen lauter sind als die Autos. Den Beton der Universitätsgebäude haben die Jahre längst verschattet, und alles rahmen die Bäume gleichmütig ein. Der surreale Charme des grünen Stadtteils zeigt sich überall. Wer zur U-Bahn will, muss ein Reetdachhaus durchqueren, im Botanischen Garten gibt es einen zahmen Fuchs, der Pausenbrote stibitzt. Und im Museumskomplex zwischen Arnimallee und Lansstraße verbinden sich die 20er-Jahre architektonisch mit den 60ern – Schleusen aus Zeit, dazwischen bemooste Steine.

 

Die Sammlung des MEK verfügt über 280.000 Ethnografika und Objekte zur Alltagskultur © Jens Gyarmaty
Im Humboldt Forum wird das Museum Europäischer Kulturen mit einem Schaufenster vertreten sein © Jens Gyarmaty
Ein Teil des Museumskomplexes Dahlem © Jens Gyarmaty
Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen © Jens Gyarmaty
Schmuck aus verschiedenen Kulturen Europas © Jens Gyarmaty
Der üppige Halsschmuck der Mordwininnen, einer finno-ugrisch sprechenden Ethnie, besteht u.a. aus venezianischen Perlen und tropischen Kauri-Muscheln © Jens Gyarmaty
Museumsleiterin Elisabeth Tietmeyer inspiziert ihre eigene Sammlung in Dahlem © Jens Gyarmaty
"Kulturkontakte" lautet das profilprägende Stichwort des Hauses - die Ergebnisse dieser Kontakte merkt man in Alltagsobjekten © Jens Gyarmaty
Das besondere am MEK ist der kulturtheoretische Ansatz © Jens Gyarmaty
Vitrine in der Ausstellung "Erfüllbare Träume? Italienerinnen in Berlin"© Jens Gyarmaty
© Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen / Ute Franz-Scarciglia

Von der Lansstraße aus betritt man durch schwere Drehtüren das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst. Sie liegen im neueren Bornemann-Bau. Noch wandern die Besucher durch die großen Hallen. Der Museumsshop hat geöffnet. Aber einige Ausstellungsstücke sind schon verpackt, und die Kellnerin vom Café „eßkultur“ schaut melancholisch durch die riesige Glasfassade nach draußen, während sie zischend die Kaffeemaschine anlässt. „Den Ausblick werd’ ich bald nicht mehr haben“, murmelt sie.

Dafür bekommt sie einen Gartenplatz im alten Stammgebäude, Eingang Arnimallee. Dort entsteht, zusammen mit „eßkultur“, das „Kaffeehaus Europa“. Überhaupt herrscht Aufbruchstimmung im Bruno-Paul-Bau, der das Museum Europäischer Kulturen beherbergt – gerade weil das Museum als einzige Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin in Dahlem verbleibt. Die Museumsdirektorin Professor Elisabeth Tietmeyer, dunkler Pagenschnitt, sprudelnde Ausstrahlung, freut sich schon: „Für uns ist das eine Herausforderung, denn bislang wurden wir von vielen Besuchern nur als Abteilung des Ethnologischen Museums wahrgenommen. Das ist aber nicht der Fall. Wir sind ein eigenständiges Museum mit einer langen, bewegten Geschichte. Wenn das Museum nun als einziges an diesem Standort bleibt, ist dies natürlich ein Alleinstellungsmerkmal. Das finde ich reizvoll, das wollen wir nutzen!“

Das Besondere an ihrem Museum ist der kulturtheoretische Ansatz. In den hohen, grau gestrichenen Räumen werden nicht die Völker Europas vorgestellt, sondern das, was zustande kommt, wenn die Völker aufeinandertreffen – durch Handel, Reisen, Migration oder auch durch Kriege. „Kulturkontakte“ lautet das profilprägende Stichwort des Hauses, und die Ergebnisse dieser Kontakte bemerkt man an Alltagsobjekten, zum Beispiel wenn auf einem Trachtenrock aus Mordwinien venezianische Glasperlen und westafrikanische Kaurischneckengehäuse zusammenkommen. Kulturobjekte, erkennt der Besucher, sind eben oft auch Kulturcollagen.

Wenn die Ethnologin Tietmeyer auf Reisen geht, schaut sie sich unwillkürlich nach solchen Kulturobjekten um. Die schwarze Holzmaske, die sie bei einem Schnitzer in Sardinien entdeckt hat, hängt jetzt mit anderen Masken aus anderen Ländern und Zeiten in einer Vitrine und zeigt, dass einfache Gegenstände Vokabeln einer Sprache sein können, die jeder für seine eigene hält, die aber tatsächlich universal ist.

Elisabeth Tietmeyer hat bei den Gikuyu in Kenia gelebt und über Frauenehen geforscht. Bis heute ist sie immer wieder unterwegs. In wie vielen Ländern sie schon gewesen ist, kann sie gar nicht genau sagen. Auf Anhieb fallen ihr ein: Kenia, Ägypten, Marokko, Südafrika, Vietnam, China, Russland und die Ukraine.

„Ich war immer neugierig“, erzählt sie mit ihrer schnellen, wachen Stimme. „Wenn ich nicht mehr neugierig bin, bin ich tot. Ich finde alles interessant, was ich für mich entdecken kann, in der Geschichte wie in der Gegenwart, in der Kultur wie in der Natur. Ich wollte immer Menschen und Gegenden kennenlernen, die anders sind als ich und mein Umfeld oder meine Heimat. Dafür muss ich nicht unbedingt weit reisen. Das andere kann sich ‚vor der eigenen Haustür‘ befinden.“

Ich war immer neugierig. Wenn ich nicht mehr neugierig bin, bin ich tot.

Diese Haltung entspricht der Methodik des MEK, wie die Mitarbeiter ihr Museum nennen. Sie interessieren sich für konkrete Schicksale, sie arbeiten gegenwartsorientiert und sind in Europa weit vernetzt. Sie kombinieren gesellschaftliche mit alltagskulturellen Themen und sammeln Alltagsgegenstände vom 18. Jahrhundert bis heute. Genauso wichtig wie die Exponate sind deren Biografien – Objektbiografien sagt man dazu im Museumsslang.

Die schwarze Gondel aus Venedig aus dem Jahr 1910, ein Hauptstück der Sammlung, auf das Tietmeyer besonders stolz ist, hat eine charmante Geschichte. Ein venezianischer Kaufmann schenkte sie in den 70er-Jahren einem Berliner Kollegen, der damit tatsächlich über den Halensee fuhr und sie schließlich dem Museum übergab.

Den härtesten Gegenwartsbezug stellt wohl die Flüchtlingsausstellung „daHEIM: Einsichten in flüchtige Leben" her. Die Künstlerin Barbara Caveng hat Schuhe, Kleidungsstücke und Schwimmwesten aus Idomeni mitgebracht, und die Migranten selbst haben ihre Geschichten an die Wände gemalt und Bettgestelle aus Notunterkünften in Skulpturen verwandelt.

„Wir zeigen aber nicht nur Schicksale der Geflohenen“, erläutert Tietmeyer, „sondern vergleichen sie auch mit historischen Biografien. Damit wollen wir zeigen, dass Flucht nicht vom Himmel gefallen ist. Migration besteht seit Anbeginn der Menschheit. Über diesen langen Zeitraum gesehen, war der Mensch doch mehr unterwegs als sesshaft.“

An die blutgetränkten Hammelfettstreifen denke ich nicht so gern zurück.

Weil sie selbst länger in der Fremde war, hat Elisabeth Tietmeyer einen anderen Blick auf sich und ihre Kultur bekommen, erzählt sie – einen demütigen. Europa, das sei ihr in Afrika klar geworden, sei nicht das Zentrum der Welt. Wie man Europa empfinde, das würde einem erst dann wirklich bewusst, wenn man anderswo lebe. Was Schlimmes ist ihr dabei nie passiert, abgesehen von der Shigellenruhr. Und an die in Blut getunkten Hammelfettstreifen, die ihr mal serviert wurden, denkt sie auch nicht so gern zurück. Aber weil sie alles spannend findet, was anders ist, findet sie auch alles spannend, was sich verändert.

Für das Museum gibt es schon einige Ideen. Seit einiger Zeit arbeitet das MEK intensiv mit den zwei anderen Museen in Dahlem zusammen: der Domäne Dahlem und dem Botanischen Museum. Geplant sind ein jährlich ausgerichtetes Fest für die Berliner und Berlinbesucher, Veranstaltungen in den verschiedenen Häusern zu einem gemeinsamen Thema sowie ein gemeinsames Ticketing.

Darüber hinaus werden die „3 aus Dahlem“ sich intensiv mit Museen und Ausstellungshäusern in Steglitz und Zehlendorf vernetzen. In seinem Dahlemer Stammhaus möchte das MEK Projekte entwickeln, die an verschiedenen Standorten in der Stadt gezeigt werden sollen. So auch im Humboldt Forum. Dort wird eine Ausstellung, ein sogenanntes Fenster, mit Objekten aus dem MEK entstehen. Und vielleicht noch weitere Besucher ins grüne Dahlem locken, in den alten Bruno-Paul-Bau mit seinem vergilbten Putz und dem verträumten Buchengarten.

Draußen vor dem schmiedeeisernen Zaun eilen Studenten die Straße entlang: von der Bibliothek zum Seminar, von der Vorlesung zur Mensa. Die alte Einheit von Kultur und Wissenschaft erfindet sich in Dahlem täglich neu.

MEK / Museum Europäischer Kulturen

Das Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin sammelt, erforscht, bewahrt, präsentiert und vermittelt Alltagskultur und Lebenswelten in Europa vom 18. Jahrhundert bis heute – aus kulturanthropologischer und vergleichender Perspektive.
1873 als Museum für Völkerkunde gegründet, besteht das MEK in seiner heutigen Form seit 1999. In diesem Jahr wurde die europäische Sammlung des Museums für Völkerkunde mit den Beständen des ehemaligen Museums für [Deutsche] Volkskunde vereint.

Website des MEK / Museums Europäischer Kulturen