In 20 Minuten zum achthändigen Schönberg

News vom 28.04.2020

Das Staatliche Institut für Musikforschung ist der heimliche Star der neuen Netflix-Serie „Unorthodox“ – vor dem nächsten Serienmarathon empfiehlt sich das enorme digitale Angebot des Instituts

Junge Frau sitzt allein in einem Konzertsaal
Protagonistin Esty im Curt-Sachs-Saal des Musikinstrumenten-Museums, in der Netflix-Serie der Konzertsaal des "Chalhulm Conservatory of Music" © Anika Molnar/Netflix

Von Julia Spinola

Wer sich in diesen Pandemie-Zeiten nach langen Homeoffice-Tagen einen Serien-Marathon bei Netflix gönnt, der findet sich überraschend in den Räumlichkeiten des Musikinstrumenten-Museums wieder. Da lauscht die junge Esty, Protagonistin der Mini-Serie „Unorthodox“, gebannt einer Probe von Musikstudenten und findet nach ihrem Ausbruch aus der ultra-orthodoxen jüdischen Religionsgemeinschaft der Satmarer in New York schließlich über die Aufnahme an einer fiktiven Berliner Musikakademie ein Stück weit zu sich selbst. Er sei sofort begeistert gewesen, erzählt Thomas Ertelt, der Direktor des Staatlichen Instituts für Musikforschung (SIM), als Filmemacherin Maria Schrader bei ihm wegen einer Dreherlaubnis angefragt habe. Ertelt kannte und schätzte bereits die autobiografische Erzählung von Deborah Feldman, die als Vorlage für das Drehbuch diente. „Die fortschrittliche Nachkriegs-Architektur von Hans Scharoun war es“, sagt Ertelt, „die Maria Schrader dazu bewogen hat, unsere Räumlichkeiten als Kulisse für diese Geschichte einer Emanzipation und Selbstfindung zu wählen. Sie dient im Film als Symbol für Aufbruch und Freiheit.“ Gedreht wurde nicht in den Ausstellungsräumen des Museums, das wäre bei einer Filmcrew von an die 100 Menschen schlicht nicht möglich gewesen, sondern im Curt-Sachs-Saal und im Folkloresaal des Hauses am Potsdamer Platz. Eine Szene entstand in der Institutsbibliothek und eine sogar in Ertelts Büro. Die Serie soll fortgesetzt werden. Man darf also gespannt sein, wie sich Estys Musikstudium in der Scharounschen Architektur weiterentwickeln wird.

Die Corona-Krise hat das kulturelle Leben in Deutschland weitgehend lahmgelegt. Der Shut Down hat auch vor dem SIM nicht haltgemacht. Veranstaltungen sind abgesagt oder verschoben worden, auch das Musikinstrumente-Museum musste vorübergehend schließen. Doch auch jenseits der Netflix-Unterhaltung bieten sich dem Musikinteressierten jetzt Möglichkeiten, von den wissenschaftlichen, archivarischen und den Publikumsangeboten des Instituts zu profitieren. Das digitale Angebot ist enorm. Wann wäre der Augenblick günstiger als jetzt für einen virtuellen Spaziergang durch das Archiv des Konzertlebens mit kleinen Verweilpausen an ausgewählten Lieblingsorten des Berliner Musiklebens zwischen 1880 und 1945 – ganz ohne Atemschutz und Kontaktverbot!

Hier schlendert man online durch den Reichtum einer der wichtigsten Musikmetropolen mit seinen Protagonisten, Aufführungsdaten, Orten, Konzertprogrammen und Werken. Rund 12.000 Konzert-, Opern-, Theater- und Revueprogramme von 1770 bis in die 1990er Jahre schlummern in der Programmsammlung des SIM. Zum Teil verweisen sie auf Veranstaltungsorte, über die man heute nichts mehr weiß. Manch eine Lücke konnte während der Arbeit an der interaktiven Karte Berlins, die sich unter dem Link zur Topografie des Konzertlebens finden lässt, jedoch geschlossen werden, berichtet Thomas Ertelt. Berlin hatte im Jahr 1920 etwa fünfzehn Konzertsäle. Dazu gehören prominente Aufführungsorte wie die alte Philharmonie, die sich von 1882 bis 1944 in der Bernburger Straße befand, gleich neben dem Stern’schen Konservatorium. Oder die Singakademie, die 1827 einen der ersten festen Konzertsäle Berlins bekam, in dem heute das Maxim-Gorki-Theater beheimatet ist. Die interaktive Karte verweist aber auch auf kleinere Säle, die im damaligen Musikleben eine große Rolle spielten, von denen man aber lange Zeit nicht wusste, wo sie lagen.

Als Spezialist für die Musik der Wiener Schule interessiert Thomas Ertelt zum Beispiel der heute nicht mehr existente Harmonium-Saal in der Steglitzer Straße 35. Dort fand am 4. Februar 1912, wenige Monate nach Arnold Schönbergs zweiter Übersiedlung nach Berlin, ein Konzert statt, in dem neben einigen seiner Lieder und den Klavierstücken op. 19 auch die Orchesterstücke Nr.1, 2 und 4 aus seinem op. 16 aufgeführt wurden – in einer Bearbeitung für acht Hände, also für vier Pianisten an zwei Klavieren. Als Interpreten traten unter anderem Anton Webern und Eduard Steuermann auf, die achthändige Bearbeitung stammte von Erwin Stein. Im Publikum saß Ferruccio Busoni, der das Spiel der Pianisten und Schönbergs glühende Leitung der Aufführung in einer Kritik eindringlich beschrieb (F. Busoni, Wesen und Einheit der Musik, hrsg. v. J. Herrmann, Berlin 1956, S. 211–212).

Das Haus, in dem sich der Harmonium-Saal befand, existiert nicht mehr. Es lässt sich jedoch vermuten, wo es stand. Das digitale Angebot des SIM verlinkt auf ein informatives Heftchen des „Harmoniumhauses Carl Simon“, mit einer ausführlichen Beschreibung und Anpreisung des 190 Gäste fassenden Saales, der in den Geschäftsräumen „von dem Berliner Architekten Ed. Bangert in hochkünstlerische Weise geschaffen“ worden sei. „Besonders hervorzuheben“, so heißt es in der Quelle, seien die „bequemen Garderoben, auf die beim Bau großer Wert gelegt wurde“. Die Topografie des Berliner Konzertlebens verzeichnet neben Aufführungsorten auch weitere relevante Orte des Musiklebens wie Instrumentenbauer, Orte der Musikindustrie oder Wohnorte von wichtigen Protagonisten, wie das von Josef Joachim in Tempelhof oder Wilhelm Furtwänglers Zuhause in Steglitz. Ferruccio Busoni, so kann man hier recherchieren, begab sich vermutlich von seiner letzten Berliner Wohnung am Viktoria-Luise-Platz 11 zu Schönbergs Matinée-Konzert – da brauchte er zu Fuß nicht länger als 20 Minuten. Drei Jahre nach Busonis Tod zog in sein Wohnhaus übrigens der Filmregisseur Billy Wilder ein – aber das würde jetzt wieder zurück in die Gefilde des Netflix-Angebots führen.

Auch die Zahl der Künstleragenturen war seit der Jahrhundertwende beständig gestiegen. Neben der berühmten Konzertdirektion Hermann Wolff und Jules Sachs gab es 1920 die Konzertdirektion Robert Sachs, das Konzertbüro Ludwig Loewenson und auch die noch heute existierende Konzertdirektion Hans Adler.

Eine wichtige Quelle, die digital vollständig erschlossen wurde und im Volltext durchsuchbar ist, sind die sehr nützlichen, kleinen grauen Heftchen, die in Berlin bis ins Jahr 2012 hinein noch kostenlos verteilt wurden. In rund 1900 Ausgaben verzeichnen sie die Berliner Konzerttermine von 1920 bis 2012. Gründer dieses Anzeigenblattes war der Sänger und Musikliebhaber Gotthard Schierse, der 1970 starb. Nach seinem Tod wurde seine Firma „Berliner Konzert- und Theaterreklame“ in eine Stiftung umgewandelt. Die Überschüsse aus dem Geschäftsbetrieb des Konzertführers dienten dazu, „junge und podiumsreife Musiker durch Veranstaltung von Konzerten und Wettbewerben in Berlin zu fördern“. Seit Ende der Achtziger Jahre fanden diese meistens im Curt-Sachs-Saal des Musikinstrumenten-Museums statt.

Eine Besonderheit innerhalb des Archivs des Konzertlebens bildet der Schwerpunkt „Wiener Schule“. Basierend auf den Briefwechseln der Wiener Schule wird unter dem entsprechenden Schlagwort zu Kommentaren verlinkt, die Mitglieder der Wiener Schule zu einzelnen Proben oder Aufführungen verfasst haben. Hier findet man nicht nur Konzertkritiken oder Aufführungskommentare, sondern auch Briefäußerungen zu geplanten Aufführungen und zum Probenverlauf. Es gibt reichhaltiges Quellenmaterial zum Forschungsschwerpunkt „Geschichte der musikalischen Interpretation“. Die Buchpublikation soll im Frühjahr 2021 mit zwei Bänden fortgesetzt werden. Dann erscheinen der Briefwechsel zwischen Alban Berg und Anton Webern sowie jener zwischen dem Pianisten Eduard Steuermann und mehreren anderen Vertretern der Wiener Schule. Die umfangreiche Sammlung von Tondokumenten aus dem Bereich der Aufführungslehre der Wiener Schule ist bislang noch nicht digital zugänglich.

Wer sich jedoch ein Bild vom Vorteil digitaler Veröffentlichungen mit Klangbeispielen machen möchte, dem sei in der Rubrik der Online-Publikationen Mark Lindleys Untersuchung zu Fragen der Stimmung in Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ empfohlen (“Valuable nuances of tuning for part 1 of J.S. Bach’s ‘Das wohl temperirte Clavier’”). Dort kann man sich anhören, wie die ungleichstufige Stimmung, die Lindley für Bachs Werk vorschlägt, im Unterschied zur gleichstufigen klingt. Ebenfalls primär an Wissenschaftler wendet sich das „Flagschiff“ der digitalen Angebote des SIM, wie Thomas Ertelt es nennt: die Bibliographie des Musikschrifttums. Über 415.000 Datensätze sind dort verzeichnet und kostenfrei abrufbar. Rund eine Million Aufrufe pro Jahr zeigen, dass diese Serviceeinrichtung eine Erfolgsgeschichte ist.

Aber das digitale Angebot des SIM richtet sich auch an den interessierten Musikfreund. Der digitale Guide des Musikinstrumenten-Museums lässt dem Besucher Wahl, ob er sich mit einer knappen Information zu den Exponaten zufriedengeben möchte, oder durch das Anklicken einer weiteren Ebene von tiefergehenden Erläuterungen und Musikbeispielen profitieren möchte. Bislang war der Guide nur über das hauseigene WLAN aufzurufen. Teile des Guides, wie die virtuelle Beethoven-Tour, sollen jetzt jedoch über die Website nach außen gebracht werden. Statt sich dem nächsten Serienmarathon hinzugeben, kann man sich dann auf eine Reise durch die Klangwelt Beethovens begeben und zum Beispiel hören, wie das Prestissimo aus der Klaviersonate E-Dur, op. 109, auf einem Nachbau jenes Hammerflügels klingt, den Beethoven 1817 aus dem Klavierhaus Broadwood geschenkt bekam.

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