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Transportlisten zeugen vom Kriegsschicksal tausender Kunstwerke
News vom 13.11.2015
Was hat der Deutsch-Russische Museumsdialog gebracht? Eine Reihe zum zehnjährigen Jubiläum. Fragen an Britta Kaiser-Schuster, Dezernentin der Kulturstiftung der Länder und Projektleiterin des Deutsch-Russischen Museumsdialogs (DRMD) und Regine Dehnel, Wissenschaftliche Leiterin der Arbeitsgruppe „Kriegsverluste deutscher Museen“ des DRMD
Zwei Forschungsprojekte stehen im Mittelpunkt des DRMD: „Russische Museen im Krieg“ und „Kriegsverluste deutscher Museen“. Denn bis heute ist für viele Kunst- und Kulturgüter in beiden Ländern unklar, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg auf ihr Schicksal hatte. Durch die bilaterale Zusammenarbeit der Experten soll endlich mehr Klarheit entstehen über die vielen verlorenen und vermissten Kulturgüter hier wie dort. Können Sie zwei Beispiele nennen, die bezeichnend sind?
Britta Kaiser-Schuster: Auf Seite der russischen Museen möchte ich das Museum in Nowgorod nennen. Das Museum verlor infolge des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion nicht nur zahlreiche Kunstwerke sondern auch die Inventarbücher, in denen die Kunstwerke beschrieben waren. Deshalb gibt es für dieses Museum bis heute keinen Verlustkatalog, was die Suche nach den verlorenen Werken außerordentlich erschwert.
Regine Dehnel: Auf Seite der deutschen Museen war die Beschäftigung mit den Verlusten der Kunstsammlungen Chemnitz besonders bezeichnend. Von den 136 bis heute vermissten Gemälden konnten wir kein einziges in den Dokumenten der Trophäenbrigaden des Kunstkomitees identifizieren. Eine wesentliche Ursache dürfte darin bestehen, dass die Chemnitzer Gemäldeverluste durch andere Akteure entstanden: durch Deutsche, die in den Auslagerungsorten im Erzgebirge einzelne Kunstwerke an sich nahmen, vielleicht auch durch Angehörige der amerikanischen Armee, die ab April 1945 viele Orte im Süden und Südwesten Mitteldeutschlands als erste befreite und besetzte – Wochen vor der sowjetischen Armee.
Sie werten die Transportlisten der sowjetischen Trophäenbrigaden aus. Wer hat diese Listen damals erstellt und wie ging man dabei vor?
RD: Die Dokumente der Trophäenbrigaden des Kunstkomitees, mit denen wir arbeiten, entstanden zwischen März 1945 und September 1947. Es handelt sich um Beschreibungen der Museen, Herrenhäuser, Bergwerke oder Schlösser, in denen die Trophäenbrigaden Kunstwerke vorfanden. Es sind Rechenschaftsberichte, aus denen wir von dem Umfang der Abtransporte, aber auch von den Verheerungen und Zerstörungen des Krieges erfahren, Notizen zu den Bergungsarbeiten, beispielsweise im Flakleitturm Friedrichshain, und natürlich umfangreiche Transport-, Verteilungs- und Übernahmelisten von Kunstwerken. Erstellt wurden die Dokumente u.a. von Kunsthistorikern, Archäologen, Restauratoren. Die Mitglieder der Trophäenbrigaden des Kunstkomitees waren im zivilen Leben, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, Museumskustoden, Theaterleute und Universitätsprofessoren. Mehrere von ihnen gehörten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften an.
Sie beschäftigen sich viel mit Archivalien, arbeiten aber auch intensiv mit russischen Kollegen zusammen. Wie muss man sich das praktisch vorstellen?
RD: Den Ausgangspunkt für das Projekt „Kriegsverluste deutscher Museen“ bilden über 8.500 Blatt Archivgut, auf denen die Tätigkeit der sowjetischen Trophäenbrigaden des Kunstkomitees in Deutschland und die Übernahme von Kunstwerken aus Deutschland in Museen der Sowjetunion dokumentiert sind. Um die Abertausende Kunstwerke, die in diesen Dokumenten genannt sind, mit den heutigen Verlustkatalogen deutscher Museen vergleichen zu können, wurden die russischsprachigen Dokumente zunächst ins Deutsche übersetzt. Alle Informationen, die konkrete Kunstwerke betreffen, erfassten wir in einer Datenbank. Diese Datenbank ist unser wichtigstes Arbeitsinstrument. Den Ausgangspunkt für unsere Recherchen bilden stets die Informationen zu konkreten Kunstwerken: Künstlernamen, Titel oder Bezeichnungen von Kunstwerken, Angaben zu den verwendeten Materialien, den eingesetzten Techniken, Inventarnummern, andere besondere Kennzeichen.
BKS: Für das Projekt „Russische Museen im Krieg“, das dem Schicksal von sechs ausgewählten Sammlungen in den nordrussischen Städten Nowgorod und Pskow sowie den früheren Zarenresidenzen in Gatschina, Pawlowsk, Peterhof und Puschkin (Zarskoe Selo) nachging, wurde ein anderer Forschungsansatz gewählt. In enger Kooperation mit den russischen Museen wurde deren Geschichte in den Jahren vor dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, während der deutschen Okkupation sowie in der Zeit des Wiederaufbaus nach Kriegsende rekonstruiert. Es ging um Strukturen und Akteure des Kunstraubs in der Sowjetunion aber auch darum, welche Schutzmaßnahmen die sowjetischen Museen getroffen hatten, wie mit und nach Kriegsende die Bestandsaufnahme der russischen Verluste erfolgte. Bereits im Vorfeld des Projektes, das die VolkswagenStiftung förderte, wurde gemeinsam mit den russischen Kollegen diskutiert: gibt es wissenschaftlich fundierte Verlustdokumentationen, in welchem Umfang und mit welchen Ergebnissen haben die russischen Museen die Geschichte ihrer Häuser bisher erforscht, gab es nach Kriegsende Rückgaben von Kunstwerken, die zuvor von deutscher Seite geraubt worden waren, durch die amerikanischen Alliierten oder auch Rücktransporte durch die sowjetischen Truppen.
Welche konkreten Auswirkungen haben Ihre Forschungsergebnisse auf die weitere Geschichte von Objekten?
BKS: Zu unseren Forschungsergebnissen zählt die Identifizierung und Lokalisierung bis heute gesuchter deutscher und russischer Kunstwerke und Kulturgüter. Durch die Tätigkeit des Projekts „Russische Museen im Krieg“ konnten im Jahr 2013 dem Schlossmuseum in Pawlowsk 125 Bände der Rossi-Bibliothek zurückgegeben werden. Im Juli 2014 erfolgte unter Mitwirkung desselben Projektes die Restitution einer „Verkündigungsikone“ an das Schlossmuseum in Gatschina. In beiden Fällen hatten sich die Kulturgüter in privaten Händen befunden, wollten die deutschen Familien sieben Jahrzehnte nach dem Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion etwas davon wieder gut machen, was zwischen 1941 und 1944 geschehen war.
RD: Zu den konkreten Auswirkungen zähle ich auch, dass die Projekte des DRMD die Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Museen befördern. Dank der Forschungen des Projektes „Kriegsverluste deutscher Museen“ weiß die Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin heute sehr viel mehr über Kunstwerke aus ihrem Bestand, die sich seit 1945/46 und bis heute in der Staatlichen Eremitage in St. Petersburg sowie im Puschkin-Museum in Moskau befinden. Auf dieser Basis werden Restaurierungs-, Forschungs- oder Ausstellungskooperationen denkbar. Die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha konnte, wiederum auf Grundlage der Forschungen des DRMD, eine Cranach-Ausstellung konzipieren, die 2017 in Moskau Werke des Künstlers, die sich seit 1958 wieder in Gotha befinden, mit jenen vereinen wird, die, 1945/46 in die Sowjetunion abtransportiert, bis heute im Puschkin-Museum verwahrt werden.
Die Fragen stellte Stefanie Heinlein.
Weiterführende Links
- Interview zu Kooperationsprojekten der SPK mit Russland „Wir kannten die antiken Vasen in Moskau nur von Fotos“ (12.11.2015)
- Interview zu Kooperationsprojekten der SPK mit Russland „Vom deutschen Monolog zum Dialog auf Augenhöhe“ (10.11.2015)
- Interview zum Deutsch-Russischen Museumsdialog „Wir wollen wissen, was sich im Krieg abgespielt hat“ (05.11.2015)
- Veranstaltungen zum 10-jährigen Jubiläum des Deutsch-Russischen Museumsdialogs
- Projekt zur Auswertung von Transportlisten sowjetischer Trophäenbrigaden
- Deutsch-Russischer Museumsdialog