Die dekolonisierte Gesellschaft: Den Opfern eine Stimme geben

News vom 29.03.2019

Deutschland ist auf dem Weg, einen Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit zu finden. Die Fokussierung auf Rückgaben von Museumsobjekten alleine greife dafür aber zu kurz, meint SPK-Präsident Hermann Parzinger. Der folgende Text erschien zuerst bei Tagesspiegel Causa.

SPK-Präsident Hermann Parzinger
© SPK/ photothek.net / Felix Zahn

Deutschland findet endlich zu einem neuen Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit. Es ist dabei nicht mehr nur ein Thema der Museen, die seit einigen Jahren verstärkt dabei sind, ihre Objekte aus kolonialem Kontext zu untersuchen. Das ist die erste Erkenntnis aus den sogenannten „Eckpunkten“, auf die sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände verständigt haben. „Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte als Teil unserer gemeinsamen gesellschaftlichen Erinnerungskultur gehört zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland und ist über die Politik hinaus eine Aufgabe für alle Bereiche der Gesellschaft, auch für Kultur, Bildung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“, heißt es in dem Papier. Anders als in Frankreich steht diese Aussage für einen breiten politischen Konsens zum Umgang mit dem kolonialen Erbe. Dabei ist zu begrüßen, dass das Thema hier nicht auf Museen alleine verengt wird.

Gleichwohl geht es in dem Papier zunächst vor allem um Rückgaben von Kulturgütern und menschlichen Überresten. Hier muss allerdings manches noch konkreter werden. Dabei bedarf es auch eines nächsten Schrittes, nämlich der Befassung der unmittelbar demokratisch legitimierten Träger der Willensbildung, der Parlamente im Bund und in den Ländern, und der Formulierung gesetzlicher Rahmenbedingungen, die auch abseits formaler Eigentumszuordnungen zumindest allgemeine Leitlinien für Rückgaben aufstellen. Dies würde den Museen wesentlich mehr Handlungsspielraum und Handlungssicherheit geben.

Unstrittig ist, dass „human remains“, also aus Gräbern zum Zwecke anthropologischer und rassenkundlicher Forschungen unrechtmäßig entnommene Gebeine, meist Schädel, ohne Wenn und Aber zurückzugeben sind, wie die „Eckpunkte“ dies auch fordern. Natürlich setzt das voraus, dass die Herkunftsländer dies auch wünschen und vor allem klären können, was damit geschehen soll, ob sie etwa in die Obhut eines Staates oder einer Ursprungsgesellschaft gehören.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wird noch in diesem Jahr die Provenienzforschung zu einer Sammlung von über 1000 Schädeln aus ehemals Deutsch-Ostafrika abschließen, die wir vor einigen Jahren von der Charité übernommen haben. Dabei konnten wir klären, welche Gebeine von welchen Orten in Ruanda und Tansania stammen, grundlegende Voraussetzung für jede Rückgabe. Eine würdevolle Repatriierung muss sich anschließen. Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht um eilige Rückgaben gehen darf, sondern wir müssen in einen Dialog mit den Herkunftsgesellschaften treten und ihnen zuhören und verstehen, was gewünscht ist. Die gemeinsame Aufarbeitung der Provenienzen zusammen mit Wissenschaftlern aus den betreffenden Ländern gehört für die SPK zur gelebten und guten Praxis.

So wichtig die Erforschung der Herkunfts- und Erwerbungsgeschichte ist, so wenig dürfen die Kulturgüter in unseren Sammlungen auf ihr Schicksal in der Kolonialzeit reduziert werden. Gerade im Humboldt Forum wollen wir den eurozentrischen Blick ja überwinden, multiperspektivisches Denken lernen und begreifen, dass für ein umfassendes Verständnis der Objekte die Sichtweisen der Ursprungsgesellschaften von zentraler Bedeutung sind. Auch in diesem Punkt sind sich die Museen in Deutschland einig: Wir wollen nicht über, sondern mit Communities in Afrika, Ozeanien, Asien oder Amerika reden. Wir wollen aber auch zeigen, was Kulturen einst verbunden hat und wie sich kulturelle Entwicklungen gegenseitig beeinflusst haben. Genau diesen Ansatz verfolgen die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihre Staatlichen Museen zu Berlin und sind auf Länder wie Tansania, Namibia, Ruanda, Togo oder Angola zugegangen, aber auch auf Communities in Nordamerika, Venezuela, Kolumbien und Brasilien oder auf Staaten wie China.

Es ist unbestritten, dass Kolonialgeschichte immer eine Geschichte von ungleicher Macht, Repression und Rassismus ist. So wie jede Geschichte seine zwei Seiten hat, werden wir den Besucherinnen und Besuchern im Humboldt Forum beide Seiten der Objekte zeigen: ihre ästhetische Kraft und Schönheit, kulturelle Einbettung und ursprüngliche Funktion, aber auch ihre Erwerbungsgeschichte mit Interviews, Filmen und Fotos. Die Opfer des Kolonialismus werden dabei eine Stimme bekommen, auch das ist Teil von shared history. Deshalb ist die Befürchtung abwegig, die Ausstellungen im Humboldt Forum würden noch im 21. Jahrhundert koloniale Präsentationsmuster auf Kosten der Ursprungskulturen fortführen; das Gegenteil wird der Fall sein. Alles andere würde ein gleichberechtigtes Miteinander in unserer von Zuwanderung geprägten Gesellschaft geradezu konterkarieren.

Das Sammeln konzentrierte sich überdies keinesfalls nur auf ehemalige deutsche Kolonien, sondern die Museen erweiterten ihre universalen Bestände systematisch durch ein weit gespanntes Netz von Ankäufern in aller Welt oder im Zuge von Forschungsreisen. Trotzdem geschah all dies im Kontext kolonialer Machtverhältnisse, und gerade deshalb ist Provenienzforschung so wichtig. Sie untersucht gewiss nicht, in welchem Koffer ein Objekt nach Deutschland gelangt ist, sondern unter welchen Umständen es erworben wurde, das ist die Kernfrage.

Die Museen in Deutschland befassen sich nun schon einige Jahre mit diesen Fragen. In Berlin beschäftigte sich das Humboldt Lab Dahlem, eine von der Kulturstiftung des Bundes finanzierte „Probebühne“ für das Humboldt Forum, von 2012 bis 2015 intensiv mit Objektbiographien. Das von wichtigen deutschen Unternehmen getragene Kuratorium Preußischer Kulturbesitz finanziert ein mehrjähriges Projekt zur Erforschung der Erwerbungsumstände unserer Objekte aus Tansania. Und nur dank der großzügigen Förderung der Gerda Henkel Stiftung konnten wir die Herkunft von über 1.000 Schädeln aus Ostafrika klären. Das „Eckpunktepapier“ von Bund, Ländern und Kommunen fordert mit Recht eine Intensivierung dieser Forschungen. Doch mit Drittmitteln alleine ist dies nicht zu bewerkstelligen, dazu braucht es dringend substantielle Unterstützung durch die öffentliche Hand, die diese nun auch in Aussicht stellt.

Eine weitere zentrale Forderung des „Eckpunktepapiers“ ist Transparenz. Eine umfassende Digitalisierung der Sammlungen ist die Grundlage für Zugang, Partizipation und gemeinsame Forschung. Die Politik muss die Museen hier fordern, aber auch fördern. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir dankbar, dass wir mit ihrer Hilfe die gesamten Erwerbungsakten des Ethnologischen Museums in Berlin digitalisieren können. Erfasst werden sämtliche Unterlagen von den Anfängen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: rund 1.300 fadengehefteten Aktenbände, 200 Bände sogenannter Hauptkataloge, 85 Bände mit Posteingangsjournalen, dazu Briefwechsel, Reisenotizen, Expeditionstagebücher, Karten und Zeichnungen, alles äußerst bedeutsame Dokumente, die Auskunft geben können über die oft hochkomplexen Erwerbungsvorgänge.

Es ist viel in Gang gekommen, und doch bleibt noch viel zu tun. Das Stuttgarter Linden-Museum gab kürzlich die Witbooi-Bibel an Namibia zurück und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz einige Monate zuvor Grabbeigaben an die Chugach in Alaska. Es zeigt sich also: Deutschland restituiert bereits, während man in Frankreich noch darüber spricht. Wir führen eine fruchtbare Debatte, die ohne das Humboldt Forum gewiss nicht diese Intensität gewonnen hätte. Wirkte das Reden vom Dialog der Weltkulturen vor Jahren vielleicht noch etwas unkonkret und salbungsvoll, so ist jetzt ein Thema gesetzt, das wir als Chance begreifen sollten. Dabei muss es gelingen, falsche Denkmuster aufzubrechen und unsere Gesellschaft wirklich zu dekolonisieren. Auch darin sind sich Politik und Kulturverantwortliche einig.

Der Text erschien zuerst bei Tagesspiegel Causa vom 28. März 2019.

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