„Wir finden immer eine gemeinsame Sprache“
24.08.2021„Wir finden immer eine gemeinsame Sprache“
Bücher, die mehr als ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geraten waren, stehen im Mittelpunkt der Arbeit des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs, der führende Vertreter*innen von Bibliotheken aus Russland und Deutschland vernetzt.

Herr Hamann, Sie sind seit 14 Jahren Leiter der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin und damit Spezialist für deutsch-russische Beziehungen. Warum gibt es einen Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog und welche Rolle spielt die Staatsbibliothek zu Berlin dabei?
Olaf Hamann: Der Deutsch-Russische Bibliotheksdialog (DRBD) ist seit 2009 der Rahmen für Gespräche zwischen Vertreter*innen aus den Bibliotheken beider Länder, der aus einer Initiative der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB), der Kulturstiftung der Länder und der Allrussischen Staatlichen M.I. Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur Moskau entstanden ist. Dabei geht es um einen Informationsaustausch über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Bibliotheken in Deutschland und Russland, die Identifizierung kriegsbedingt verlagerter Büchersammlungen in den Bibliotheken beider Länder sowie die gemeinsame Arbeit deutscher und russischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare an Projekten.

Die Vorgängereinrichtung der heutigen Staatsbibliothek, die Preußische Staatsbibliothek (PSB), war als eine der führenden Bibliotheken des Landes während des Zweiten Weltkrieges in die Gestaltung der Besatzungspolitik involviert und hat Einfluss auf die Bibliotheken und deren Sammlungen in den besetzten Ländern genommen. Durch die Evakuierung der eigenen Sammlungen hatte die PSB selbst starke Sammlungsverluste zu verzeichnen: Von mehr als drei Millionen Bänden zu Beginn des Krieges sind heute fast 730 000 im Katalog der Staatsbibliothek als Kriegsverluste gekennzeichnet, für weitere fast 30 000 Titel ist der heutige Aufbewahrungsort in Bibliotheken Russlands oder Polens bekannt.
Der Umgang mit den verlagerten Büchersammlungen beinhaltet einen fachlichen und einen politischen Aspekt. Die Bibliothekar*innen in Deutschland und Russland hatten schon 1992 den Auftakt für einen fachlichen Austausch zu diesen Fragen gelegt. Auch die Politik hat sich damit befasst, aber keine gemeinsame Sprache gefunden. Da die verlagerten Bücher einer Nutzung zugeführt werden sollten, versuchten die o.g. Einrichtungen 2009 mit dem DRBD die fachliche Diskussion und Beschäftigung neu zu organisieren und dadurch die Bearbeitung der Bücher zu fördern. Die SBB hat dabei für die deutsche Seite eine koordinierende Aufgabe übernommen und stimmt sich intensiv mit den betroffenen Einrichtungen in Deutschland und den russischen Partnerbibliotheken ab. Die frühere Generaldirektorin der SBB, Barbara Schneider-Kempf, hatte bisher für die deutsche Seite auch den Co-Vorsitz im DRBD inne. Der neue Generaldirektor, Achim Bonte, hat sich bereit erklärt, diese Aufgabe weiterzuführen.
Was sind die Ziele des Bibliotheksdialogs?
Hamann: Das Ziel des Bibliotheksdialogs ist ein fachliches. Es geht um die Sicherung der verlagerten Bestände, ihre Erfassung, Beschreibung und Katalogisierung sowie um die Nutzbarkeit der Bücher, die mehr als ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geraten waren. Darüber hinaus werden bibliothekarische Erfahrungen in der elektronischen Katalogisierung, bei der Provenienzbestimmung und -beschreibung, aber auch Fragen der Digitalisierung und virtuellen Sammlungsrekonstruktion besprochen. Und nicht zuletzt geht es auch um die Aufarbeitung der Vergangenheit: Wie hat sich der Krieg auf die Bibliotheken in beiden Ländern ausgewirkt, welche Zerstörungen sind zu beklagen, wie sind die Langzeitfolgen dieser Kulturvernichtung, wie kann auf dieser ernüchternden Basis eine neue bessere Form der Zusammenarbeit entwickelt werden?

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den internationalen Partner*innen? Gehen Politik und Kultur unterschiedliche Wege?
Hamann: Die Bibliothekar*innen beider Länder finden immer eine gemeinsame Sprache, auch wenn sie nicht unbedingt Russisch oder Deutsch sprechen. Das gemeinsame Interesse am kulturellen Erbe und seiner Bewahrung für die Zukunft verbindet uns heute, ungeachtet des schwierigen Erbes aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Gerade auch die regelmäßigen persönlichen Treffen sind wichtige Impulsgeber für die Projekte und den fachlichen Austausch.
Fragen des Umgangs mit kriegsbedingt verlagerten Büchersammlungen tangieren die Bibliotheken beider Länder in der täglichen Arbeit. In Deutschland war nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren viel über die Bestandsauslagerungen während des Krieges und die Abtransporte in die UdSSR geforscht worden. Über den Erhalt oder Verbleib der ausgelagerten Sammlungsteile gab es jedoch keine vollständigen Informationen. In den russischen Bibliotheken wussten bis in die 1990er Jahre hinein nicht einmal die Führungskräfte über die eingelagerten „Trophäenbücher aus Deutschland“ Bescheid. Eine Katalogisierung war meist nicht erfolgt. Somit stand die Frage im Raum, wie mit diesen übertragenen Büchern umgegangen werden sollte und wie sie für die heutigen Leser*innen überhaupt zugänglich gemacht werden können. Viele Bücher sind in Frakturschrift geschrieben, die heute auch in Deutschland längst nicht von allen fehlerfrei gelesen werden kann. Auch der Erhaltungszustand musste nach 50-jähriger Einlagerung bewertet und Maßnahmen zur Bestandssicherung eingeleitet werden.

Auf der Fachebene gab es schon in den 1990er Jahren einen regen Austausch, der jedoch durch die Diskussion um das sogenannte „Russische Beutekunstgesetz“ beeinträchtigt wurde. Aus dieser Situation heraus entstand in beiden Ländern die Idee, die Erfahrungen des Deutsch-Russischen Museumsdialogs für die Weiterentwicklung der bibliothekarischen Kontakte zu nutzen. 2009 wurde dann der Bibliotheksdialog institutionalisiert und trifft sich regelmäßig im Abstand von etwa eineinhalb Jahren.

Die Politik begleitet und unterstützt diesen Prozess. Sie gewährt Reisemittel, stellt Visa aus, genehmigt Restitutionen und unterstützt dabei auch logistisch. Die Wertschätzung für den Bibliotheksdialog zeigt sich auch an Einladungen und der Durchführung von thematisch verwandten Veranstaltungen: So fanden in der Residenz des deutschen Botschafters in Russland Buchpräsentationen und Podiumsdiskussionen statt; der russische Botschafter Sergej J. Netschajew würdigte zum 10 jährigen Jubiläum des Bibliotheksdialogs 2019 die Bemühungen der Bibliotheken für eine Verständigung zwischen beiden Ländern mit einer Einladung in die Botschaft in Berlin.
Beim Deutsch-Russischen Museumsdialog besteht das Problem, dass Objekte aus Russland aus rechtlichen Gründen nicht in Deutschland gezeigt werden können. Stehen Sie vor ähnlichen Hürden? Wenn ja, wie gehen Sie damit um?
Hamann: Dieses Problem besteht für die Bibliotheken in gleichem Maße wie für die Museen. Und wie bei den Museen ist die Bestandssicherung der Objekte und ihre Einbindung in den wissenschaftlichen und kulturellen Kreislauf ein wichtiges Ziel der gemeinsamen Arbeit. Für Bücher steht neben der Unikalität oder großen Seltenheit einzelner Ausgaben auch der Text und seine Rezeption im Mittelpunkt. Daher bietet die Digitalisierung zahlreiche Möglichkeiten für Kooperationen. Das Stichwort „virtuelle Sammlungsrekonstruktion“ ist dabei ein Schlüsselwort unseres Dialogs. Auf diesem Wege konnten vor allem in den letzten Jahren einige erfolgreiche Projekte umgesetzt werden.
So hat die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) die in der Russischen Staatsbibliothek Moskau liegenden Teile der Musiksammlung der Prinzessin Amalie von Sachsen erfolgreich digitalisiert. Auch die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen oder das Deutsche Buch- und Schriftmuseum bei der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig haben da erfolgreiche Digitalisierungen erreichen können. Als wichtiges Ereignis hat sich auch die Konferenz der Russischen Staatsbibliothek Moskau über das Exemplar der Gutenbergbibel aus dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum positionieren können. Der dazu erschienene Tagungsband belegt dies eindrücklich.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Hamann: Vor jedem unserer bisher neun Treffen haben sich die Organisator*innen gefragt, ob wir weiter Themen für gemeinsame Diskussionen finden werden. Und jedes Mal formulierten die Beteiligten nach den Treffen den Wunsch, das Gespräch unbedingt fortzusetzen und neu aufgeworfene Fragen zu behandeln.
Chronik der DRBD-Treffen
- 2009: Walentinowka bei Moskau
- 2010: Berlin
- 2012: Perm
- 2013: Leipzig
- 2014: Saratow
- 2016: Dresden
- 2018: Kaliningrad
- 2019: Berlin
- 2021: Petrosawodsk (virtuell)
Die russischen Kolleg*innen wollen beispielsweise auf dem nächsten Treffen über die Rückeroberungen der von deutschen Truppen geraubten Bibliotheken und ihre Verteilung in der Sowjetunion berichten. Das ist sehr spannend, weil diese Bücher nicht immer in die Einrichtungen zurückkamen, aus denen sie geraubt worden waren.
Der Dialog lebt vor allem auch von den persönlichen Begegnungen und daher erhoffe ich mir ein baldiges Ende der Pandemie. Denn nur dadurch werden wir die Kolleg*innen in Russland wieder treffen und den Austausch beleben können.
Ich wünsche mir außerdem die Möglichkeit, auf einer gemeinsamen Website zum Bibliotheksdialog die Kolleg*innen in Deutschland und Russland und die Öffentlichkeit besser über die erreichten Ergebnisse informieren zu können. Bisher konnte das aus Kapazitätsgründen noch nicht verwirklicht werden.