„Wir müssen endlich in den Maschinen-raum!“

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Barbara Göbel, Direktorin des Ibero-Amerikanischen Instituts, diskutiert mit Wiebke Ahrndt, Direktorin des Übersee-Museums Bremen, über die Rolle von Kulturinstitutionen in der globalisierten Gegenwart.

Frau Ahrndt, wenn man sich die Geschichte des Übersee-Museums in Bremen anschaut, bekommt man unweigerlich den Eindruck, der heute so populäre Begriff der „Globalisierung“ habe längst ein gutes Jahrhundert auf dem Buckel. Mit welchem Selbstverständnis ist Ihr Museum im Jahr 1896 gestartet?

Wiebke Ahrndt: Die Idee des Gründungsdirektors war es, den jungen Bremer Kaufleuten beizubringen, wie es in der Welt draußen aussähe. Heute würde man das vielleicht „interkulturelle Bildung“ nennen. Zudem gab es früh einen interdisziplinären Ansatz, denn man hat im Übersee-Museum Kultur und Natur miteinander verbunden. Was heute für das Humboldt Forum so heiß diskutiert wird, wurde uns bereits mit in die Wiege gelegt.

Die Ethnologie verbindet sie: Wiebke Ahrndt (l.) mit Barbara Göbel am Berliner Kulturforum.

Die Ethnologie verbindet sie: Wiebke Ahrndt (l.) mit Barbara Göbel am Berliner Kulturforum. © Andrea Vollmer

Auch Ihr Haus, Frau Göbel, das Ibero-Amerikanische Institut, kann mittlerweile auf eine fast hundertjährige Geschichte zurückblicken.

Barbara Göbel: Im Vergleich zum Übersee-Museum ist unser Institut nicht so spektakulär. Anstoß für die Gründung des Ibero-Amerikanischen Instituts war die Schenkung des argentinischen Intellektuellen Ernesto Quesada. Er vermachte seine Privatbibliothek, die mit 82 000 Bänden damals die größte Südamerikas war, an den Preußischen Staat mit der Auflage, eine Institution zu schaffen, die mehr sein sollte als ein großes Wissensarchiv. Bibliothek, Wissenschaft, Forschung und Vermittlung sollten miteinander verbunden werden, um sich wechselseitig zu befruchten. Diese Verknüpfung von drei Arbeitsbereichen, die normalerweise getrennt voneinander funktionieren – Informationszentrum, Forschungszentrum, Kulturzentrum –, charakterisiert bis heute das Ibero-Amerikanische Institut und macht es zu einer ausgeprägten Brückeninstitution.

Brücke ist da ein gutes Stichwort: Als Sie, Frau Ahrndt, eben von den Bremer Kaufleuten sprachen, da haben Sie eine Brücke mit nur einer Fahrspur beschrieben: In dieser frühen Phase der Globalisierung ging es darum, dass der Globale Norden etwas über den Süden erfahren sollte. Ein Transfer in die andere Richtung war in diesem Konzept nicht vorgesehen.

Ahrndt: Da haben Sie recht. Der Kerngedanke wurde eigentlich ökonomisch gedacht: Der angehende Kaufmann sollte im Museum etwas über die Wirtschaftsstärke anderer Länder erfahren; er sollte lernen, wie die Leute in der Welt tickten und Geschäfte machten. Nicht zuletzt sollte er auch die Natur kennenlernen; was in diesem Zusammenhang vor allem Ressourcen und Rohstoffe meinte. Der Bildungsauftrag bestand also in Handels- und Warenkunde; und natürlich war das als Einbahnstraße gedacht. Heute benötigen wir einen Austausch, der in beide Richtungen funktioniert.

Bevor wir über unterschiedliche Fahrtrichtungen diskutieren, sollten wir kurz klären, warum wir überhaupt Kulturaustausch benötigen. In einer Zeit, in der sich gerade auch europäische Staaten wieder vermehrt abschotten, ist das ja keine Selbstverständlichkeit mehr.

Ahrndt: Als Institutionen stehen wir für eine tolerante Welt. Für unsere Arbeit ist ein Austausch essenziell. Ein solcher Wissenstransfer ermöglicht es überhaupt erst, sich in einer immer komplexeren Welt zu positionieren. Wir diskutieren im Moment zum Beispiel intensiv über Rückgaben von Kulturgütern. Da gibt es extreme Positionen, die der Meinung sind, wir müssten alles zurückgeben, was sich in unseren ethnologischen Sammlungen befindet. Ein Standpunkt, gegen den ich mich immer wehren würde, da es bei der Rückgabedebatte meiner Ansicht nach im Wesentlichen um kulturell und historisch sensible Objekte geht. Der Großteil unserer Sammlungen ist davon also gar nicht betroffen. Doch bei allen Differenzen im Detail sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass die Institutionen als solche gerade heute immens wichtig sind. Man kann den Wert eines ethnologischen Museums gar nicht hoch genug einschätzen.

Göbel: Ich glaube – um das Bild von der Brücke noch einmal einzubeziehen –, wir müssen weit über eine Zweibahnstraße hinausdenken. Es geht nicht mehr allein um Kulturaustausch; es geht um Aushandlungsprozesse, die unterschiedliche Perspektiven einbeziehen und in denen der eigene Standpunkt immer bezogen auf die der anderen entwickelt wird. Deshalb haben in einer zunehmend interdependenten Welt Sammlungsinstitutionen wie Bibliotheken oder Museen an Bedeutung gewonnen. Zentrale Herausforderungen sind, den Zugang zu den Beständen zu erleichtern und dadurch die Teilhabe zu stärken. Ein großer Vorteil auch von einer Einrichtung wie dem Ibero-Amerikanischen Institut in Zeiten so hoher politischer, ökonomischer und institutioneller Volatilität sind Verlässlichkeit und Stabilität. Wir leben in einer Zeit, in der von Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen oft Spektakuläres erwartet wird. Vielleicht besteht unser eigentlicher Wert aber darin, dass wir stabile, vorhersehbare Orte sind, auf die man sich in unsicheren Zeiten verlassen kann.

Der Globale Norden hat noch immer die Deutungshoheit über die Welt

Die Ethnologie verbindet sie: Wiebke Ahrndt (l.) mit Barbara Göbel am Berliner Kulturforum.
Wiebke Ahrndt © Andrea Vollmer
Barbara Göbel
Barbara Göbel © Andrea Vollmer

Das ist ein spannender Aspekt, heißt es doch eigentlich immer, dass unsere digitalisierte Gegenwart eine Ära der Entortung hervorgebracht habe. Mitten in diese Situation hinein sprechen Sie von der Exklusivität und vom Wert konkreter Kultur- und Wissensorte.

Ahrndt: Kulturinstitutionen als reale Orte sind nach wie vor wichtig. Es hat sich etwa gezeigt, dass die Digitalisierung keine Besucher kostet. Im Gegenteil: Je präsenter ein Museum im Netz ist, desto attraktiver ist es als realer Ort. Nehmen Sie die „Mona Lisa“: Die Tatsache, dass das Gemälde weltweit auf Kaffeebechern und im Netz zu sehen ist, erhöht letztlich nur den Reiz, das Bild auch einmal im Original zu sehen. Was wir derzeit erleben, lässt sich vielleicht eher mit der Demokratisierung des Wissens beschreiben: Man kann am anderen Ende der Welt sitzen und von dort aus ein deutsches Museum besuchen.

Die Teilhabe am Wissen scheint also global zuzunehmen. Dennoch haben Sie, Frau Göbel, jüngst einmal die Vorteile sogenannter Wissensmetropolen unterstrichen.

Göbel: Was wir im Kontext der digitalen Transformation zunehmend brauchen, sind stabile Knoten, die Zugänge zu komplexen Wissen und kultureller Vielfalt ermöglichen und Austausch fördern. Heute steht daher vor allem Beziehungsarbeit im Zentrum unserer Institutionen. Wir werden zunehmend zu Vernetzungsorten. Und es ist eine große und auch kostspielige Herausforderung, die unterschiedlichen Wissensinfrastrukturen trotz ihrer Differenz stärker miteinander zu verknüpfen.

Würden Sie sagen, dass diese Knotenpunkte in der globalisierten Gegenwart zunehmen? Und gibt es von daher eine gewachsene Konkurrenz unter den Institutionen?

Ahrndt: Das denke ich nicht. Konkurrenz hat es immer gegeben. Schauen Sie sich die frühen Sammler der ethnologischen Museen an: Die sind irgendwohin gereist und mussten feststellen, das andere Sammler bereits dort waren. Es hat also immer Wettbewerb gegeben. Gleiches gilt für die Netzwerke. Denken Sie an die Naturwissenschaften vor dem Ersten Weltkrieg: Damals waren Forscher bereits hochgradig vernetzt.

Göbel: Natürlich hat es diese Konkurrenz immer gegeben. Dennoch, die heutige Welt ist wesentlich multipolarer. Heute würde man solche Forschungsobjekte vermutlich nicht mehr nach Bremen oder nach Berlin schicken; man würde sie anders zirkulieren lassen und andere daran teilhaben lassen. In dieser Hinsicht ist die Welt wirklich komplexer und verflochtener geworden.

Diese neue Verflochtenheit hat dazu geführt, dass manch einer bereits vom „Wettbewerb der Narrative“ spricht. In dieser Sichtweise hat der Globale Norden nicht nur seine Funktion als Zentrum eingebüßt, er hat auch die Deutungshoheit über die Welt verloren. Würden Sie dem zustimmen?

Göbel: In der Tat haben wir heute zum Beispiel ein anderes Verständnis von dem, was man klassisch als „Moderne“ beschreiben würde. Früher war dieser Begriff sehr stark an die Konzepte der europäischen Aufklärung gebunden. Die zunehmend stärkere Einbeziehung anderer Wissensproduktionen hat eurozentristische Positionen infrage gestellt. Nichtsdestotrotz sind historisch gewachsene Wissensasymmetrien bislang nicht grundlegend durchbrochen worden.

Ahrndt: Da stimme ich zu: Es gibt noch immer den reichen Norden und den armen Süden. Nehmen Sie nur eine Institution wie das Museum: Dort halten wir noch immer die Deutungshoheit in unserer Hand. Das liegt schon allein daran, dass wir aus dem Norden noch immer die Kuratoren stellen. Wir sollten uns da sehr ehrlich machen. Wir reden zwar seit den 80er-Jahren vom Perspektivwechsel; die letzte Deutung aber liegt noch immer bei uns.

Göbel: Das liegt aber nicht nur allein an den Kuratoren, die zumindest bei Ausstellungen zunehmend partizipativ vorgehen und gemeinsam mit Kollegen aus dem Globalen Süden Projekte entwickeln und umsetzen. Meines Erachtens müssten wir stärker in den Maschinenraum der Sammlungsinstitutionen eindringen und das Objekt-Management multiperspektivischer und partizipativer organisieren. Es geht beim Ko-Management von Sammlungen nicht allein darum, Medien oder Objekte auffindbar zu machen, sondern die etablierten Kategorien konzeptionell zu erweitern, multiple Perspektiven auf ein Medium oder Objekt zuzulassen und die Einbeziehung unterschiedlicher Akteure zu ermöglichen. Es reicht also nicht aus, oben im Schaufenster – also in den Ausstellungen – unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und damit zu dezentrieren. Wir müssen die Multiperspektivität im Maschinenraum der Sammlungsinstitutionen implementieren.

Kulturinstitutionen werden mehr und mehr zu Vernetzungsorten

Ahrndt: Das ist in der Tat die größte Herausforderung der Gegenwart. Wer in den jetzigen Datenbanken etwas finden will, muss im westlichen Wissenssystem sozialisiert worden sein und sich in die Denke und die Wissensgeschichte des Westens hineinversetzen können. Wenn ich nicht die richtigen Termini habe, dann bringt mir die digitale Datenflut rein gar nichts.

Göbel: Bei der Digitalisierung fokussieren wir uns zu sehr auf das Image; die eigentliche Herausforderung aber besteht bei der Klassifikation des digitalen Objektes, um es auch in Zukunft zugänglich und verwendbar zu machen. Nur wenn wir die gesamte Wertschöpfungskette des Digitalen im Auge behalten, vermeiden wir in Zukunft instabile riesige Informationsfriedhöfe zu haben.

Jürgen Habermas hat diese Ungleichheit bei der Kommunikation die „Asymmetrie der Verständigungsverhältnisse“ genannt. In Berlin will man diese dadurch aufbrechen, dass man im künftigen Humboldt Forum Kuratoren aus den jeweiligen Herkunftskulturen einlädt, damit diese uns ihre jeweiligen Kulturen präsentieren. Ist das ein Weg aus der Asymmetrie?

Ahrndt: Das kann ein sehr spannender Weg sein. In diesem Zusammenhang könnte man dann auch über die Klassifikation von Objekten diskutieren. Denn wir könnten als Institutionen zu ganz neuen Erkenntnissen kommen, wenn wir lernten, die Welt in andere Schubladen zu stecken. Das wäre das eigentliche Gebot der Stunde.

Wiebke Ahrndt

Die Ethnologin leitet seit 2002 das Bremer Übersee-Museum. Seit 2006 lehrt sie zudem im Fachbereich Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik an der Universität Bremen. Ahrndt ist Mitglied der Museumskommission der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Barbara Göbel

Die Ethnologin leitet seit 2005 das Ibero-Amerikanische Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie hat zuvor als Ethnologin an den Universitäten Bonn, Göttingen, Köln und Tübingen sowie am Collège de France gearbeitet. Seit 2017 ist sie Honorarprofessorin an der FU Berlin.


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