„Washington war eine Revolution“

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Er gilt als Architekt der Washingtoner Konferenz. Im Interview erklärt der US‑Diplomat Stuart E. Eizenstat, was die Beschlüsse von 1998 bewirkt haben

Herr Eizenstat, Sie haben sich als Diplomat immer wieder mit brisanten Aufgabenstellungen auseinandersetzen müssen. Wie sind Sie mit dem Thema Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust in Berührung gekommen?

1968 schloss ich mich als Forschungsleiter dem Präsidentschaftswahlkampf des damaligen Vizepräsidenten Hubert Humphrey gegen Richard Nixon an. Kurz zuvor hatte mein Kollege Arthur Morse sein Buch „While Six Million Died“ veröffentlicht. Darin thematisierte er den Umstand, dass die Regierung Roosevelt bis hinauf zum Präsidenten persönlich in Bezug auf den Holocaust vergleichsweise inaktiv geblieben war. Da Roosevelt in meiner Familie aber als Ikone galt, traf mich diese Erkenntnis wie ein Schlag. Ich schwor mir damals, dass ich diesen Makel auf der ansonsten weißen Weste der Vereinigten Staaten beseitigen wollte, sollte ich je die Gelegenheit dazu bekommen.

Die Gelegenheit kam, als Sie 1993 zum US-Botschafter bei der Europäischen Union ernannt wurden und jüdischen wie anderen religiösen Gemeinschaften in Osteuropa dabei halfen, ihre Infrastruktur neu aufzubauen. Später verhandelten Sie Vereinbarungen für Anspruchsberechtigte an Schweizer Bankkonten und für Opfer von NS-Zwangsarbeit. Wie aber kamen Sie von all diesen Themenfeldern zur bildenden Kunst?

Mehrere Wissenschaftler – Lynn Nicholas, Jonathan Petropoulos und Héctor Feliciano – hatten damals Bücher über von Nationalsozialisten geraubte Kunst geschrieben. Bei einer vom Bard College in New York veranstalteten Konferenz stellten sie ihre schockierenden Erkenntnisse vor. All diese Tatsachen kamen kurz vor einer Londoner Konferenz zum Thema Nazi-Gold ans Licht. Ich bat daher die Veranstalter darum, auch das Thema Kunst auf die Tagesordnung dieser Konferenz setzen zu lassen. Das war der Startschuss. Bei der Abschlussveranstaltung erklärte ich, dass das Thema NS-Raubkunst derart dramatisch und bedeutsam sei – Experten sprachen damals von rund 600 000 durch die Nationalsozialisten geraubten Gemälden –, dass es eine eigene Konferenz verdient habe. Im November und Dezember 1998 schließlich lud ich über 40 Staaten zu einer Konferenz nach Washington ein, um über NS-Raubkunst zu diskutieren. Daraus ging die Washingtoner Erklärung hervor, die ich mit meinem Assistenten J. D. Bindenagel verhandelt habe.

Stuart E. Eizenstat im Büro der Washingtoner Anwaltskanzlei LLP.
Stuart E. Eizenstat im Büro der Washingtoner Anwaltskanzlei LLP. © Christoph Mack
Mit Jimmy Carter (r.), dem er über vier Jahre hinweg als innenpolitischer Berater gedient hat, an Bord der Air Force One
Mit Jimmy Carter (r.), dem er über vier Jahre hinweg als innenpolitischer Berater gedient hat, an Bord der Air Force One © Courtesy Stuart E. Eizenstat

Es war eine Erklärung, die rechtlich nicht bindend war. Bedauern Sie das im Nachhinein?

Nein, anders wären wir zu keiner Vereinbarung gekommen. Philippe de Montebello, der damalige Direktor des Metropolitan Museum of Art, gab bei der Abschlussveranstaltung eine sehr wichtige Erklärung ab. Er sagte, die Welt werde nie wieder dieselbe sein, denn diese Veranstaltung habe die Kunstwelt revolutioniert.

Was sind die wichtigsten Errungenschaften der Washingtoner Erklärung gewesen?

Es sind seither eine ganze Reihe wichtiger Dinge geschehen. Die beiden größten Auktionshäuser, Christie’s und Sotheby’s, haben heute hauptberufliche Angestellte, die sich ausschließlich um die Provenienzforschung kümmern. Verdächtige Werke können zwar nicht immer an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben werden, doch zumindest können derartige Kunstwerke nicht verkauft werden. Zudem sind hunderte geraubte Werke an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben worden. Wir haben eine Suchmaschine aufgesetzt, die es potenziellen Anspruchsberechtigten erlaubt, einen Suchauftrag einzureichen, der an rund hundert Museen weitergeleitet wird. Und nicht zuletzt haben die Niederlande, Großbritannien, Österreich und Deutschland Richtlinien erlassen, die es außerhalb gesetzlicher Regelungen erleichtern, Restitutionsansprüche von Raubgut zu klären.

Wie schätzen Sie darüber hinaus Deutschlands Fortschritte seit 1998 ein?

In Deutschland hat man sich wirklich bemüht. Doch ehrlich gesagt denke ich, dass man die Thematik noch nicht zufriedenstellend umgesetzt hat. Die Beratende Kommission arbeitet sehr langsam, es wurden nur sehr wenige Verfahren zugelassen, und es wäre dringend nötig, die Anstrengungen zu erhöhen. Trotzdem verdient Kulturstaatsministerin Monika Grütters großes Lob. Als ich sie vor einigen Jahren besuchte, teilte sie mir mit, dass sie den damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble davon überzeugt habe, weitere vier Millionen Euro an deutsche Kunstmuseen freizugeben, damit diese ihre Provenienzforschung beschleunigen, vertiefen und anschließend ihre Ergebnisse publizieren können. Das ist ein erster wichtiger Schritt, um den Erben, deren Kunstwerke von den Nationalsozialisten konfisziert wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In den Vereinigten Staaten indes hat das Fehlen von finanziellen Mitteln in den Museen die Provenienzforschung zum Erliegen gebracht. Dementsprechend haben die Museen damit begonnen, Forderungen von Antragstellern zurückzuweisen. Man begründet das mit Verjährungsfristen, Versäumnissen bei der Geltendmachung von Ansprüchen und der Rechtsprechung. Das läuft dem Geist der Washingtoner Erklärung zuwider.

Die Washingtoner Erklärung hat dabei geholfen, hunderte Kunstwerke zu restituieren

Hat aber nicht der Fall Gurlitt die Diskussion erneut verändern können?

Ja, der Fall hat durchaus das Potenzial dazu. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf eine Thematik, die nach der Verabschiedung der Washingtoner Erklärung viele Jahre ins Abseits geraten war. Es war ein wirklich dramatischer Fund. Und die Diskussion darüber zeigt mir, dass die Washingtoner Erklärung noch immer lebendig ist.

Die Washingtoner Erklärung umfasst aber nicht die privaten Sammler. Müsste es nicht größeren internationalen Druck geben, damit sich hier etwas verändert?

Die Washingtoner Erklärung beschränkt sich nicht auf staatliche Museen und könnte ebenso gut für private Museen und Galerien gelten. Dennoch stellen die Sammlungen in Einzel- und Familienbesitz eine große Lücke in der Vereinbarung dar. Wir konnten 1998 nicht mehr erreichen. Die Museen der Vereinigten Staaten für die Erklärung zu gewinnen war schon schwierig genug.

In Ihren abschließenden Worten auf der Washingtoner Konferenz sagten Sie damals, dass es das Ziel sei, „bis zum Ende dieses Jahrhunderts die unbewältigten Aufgaben aus der Mitte des Jahrhunderts abzuschließen“. Das war definitiv zu optimistisch. Was denken Sie, wie lange uns dieses Thema noch beschäftigen wird?

Es war wichtig, ein Ziel zu setzen, um Maßnahmen anzuregen. Und es hat funktioniert. Denken Sie daran, wo wir 1998 standen. Ohne die Washingtoner Erklärung hätten wir die ganzen Erfolge nie erreichen können. Sie hat zur Restitution von hunderten Kunstwerken oder entsprechender Entschädigung geführt. Das hat die gesamte Provenienzforschung revolutioniert. Aber wir werden uns weiter mit dem Thema beschäftigen müssen. Deshalb wird auch die Konferenz in Berlin im November so bedeutsam sein. Ich rechne es der deutschen Regierung hoch an, dass sie diese Gelegenheit zu einer Art Bestandsaufnahme nutzen möchte. Es ist ein unglaublich wichtiges Ereignis, um 20 Jahre nach dem Beginn dieser Debatte erneut Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.

Stuart E. Eizenstat

Der Anwalt und Diplomat gehörte 1998 zu den Initiatoren der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust. Mehrere US-Präsidenten betrauten Eizenstat mit wichtigen Aufgaben, so war er von 1993 bis 1996 Botschafter der USA bei der Europäischen Union und von 1999 bis 2001 stellvertretender US-Finanzminister. Eizenstat ist Autor des Buches „Unvollkommene  Gerechtigkeit“. Zuletzt veröffentlichte er „President Carter: The White House Years“