Nummer 5 lebt!

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70 Jahre lang galt die Victoria von Calvatone als verschollen. Dann tauchte sie plötzlich in der Sankt Petersburger Eremitage wieder auf. Annäherung an eine Frau in Gold.

Die Zeit der Siege war vorbei. Als Generaloberst Alfred Jodl in der Nacht zum 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht unterzeichnete, hätte in Deutschland gewiss niemand mehr eine vergoldete Siegesgöttin gebraucht. Mehr als 60 Millionen Menschenleben; darunter allein 27 Millionen Bürger der einstigen Sowjetunion – das war die Bilanz eines von Deutschen angezettelten Krieges, der als der bis dato grausamste in die Geschichte der Menschheit einging. War es da nicht konsequent, dass irgendwann nach Ende des unvorstellbaren Infernos eine Viktoria-Statue aus der römischen Kaiserzeit auf einen sowjetischen Transporter gehievt wurde, um mit diesem die zerstörte Hauptstadt des gerade untergegangenen „Dritten Reiches“ zu verlassen?

© Museo Civico Ala Ponzone, Cremona
Die Victoria in der Kunst
Eine Tuschezeichnung von Carlo Alghisi aus dem Jahr 1879 zeigt die Victoria ohne Flügel.

Fast 100 Jahre lang war sie, die man in der ganzen Welt unter dem Namen Victoria von Calvatone kannte, im Alten Museum in Berlin beheimatet gewesen. Sie galt als Prachtstück der römischen Bildhauerkunst des 2. Jahrhunderts nach Christus. Dann aber war der Krieg gekommen; aus Schutz vor Luftangriffen hatte man 1939 damit begonnen, Teile der Sammlung – darunter auch die Victoria – in den Tresorraum der Neuen Münze am Molkenmarkt auszulagern. Relativ unbeschadet überstand die Figur hier die spätere Eroberung und die Kapitulation.

Doch dann, im Jahr eins nach Kriegsende, sollten sich russische Experten gezielt der Victoria von Calvatone erinnern. Eine der bedeutendsten vergoldeten Bronzestatuen aus den Beständen der Berliner Museen wurde 1946 in die damalige Sowjetunion verbracht – so wie mehr als 2,6 Millionen weitere Kulturschätze. Es schien das Ende der einzigartigen Frauenfigur zu sein, die italienische Landarbeiter einst in der Nähe der italienischen Stadt Cremona entdeckt hatten und die man fünf Jahre später, im Jahr 1841, für 9000 Österreichische Lire an die Königlichen Museen zu Berlin verkauft hatte. Größe, Qualität und Gleichgewicht – die Victoria schwebte elegant über einer Kugel, die sie mit den Zehen kaum zu berühren schien – hatten sie hier zu einem Hingucker der Antikensammlung gemacht; und zahlreiche Kopien, darunter in Rom, Moskau und Cremona, verbreiteten den Ruhm der Göttin in der ganzen Welt.

Doch nach ihrem Abtransport aus Berlin verlor sich die Spur der 170 Zentimeter großen Siegesgöttin, die einst auf einer überdachten Verbindungsbrücke zwischen Alten und Neuen Museum gestanden hatte. Als der Transport mit der Victoria nämlich ihren vorläufigen Zielort, die Eremitage in Sankt Petersburg, erreicht hatte, muss sich ein verhängnisvoller Irrtum ereignet haben: Es war vermutlich der Eile der Aktion zuzuschreiben gewesen, dass man die Bronze in Sankt Petersburg versehentlich in ein Depot für französische Plastik des 17. Jahrhunderts einlagerte.

Anna Vilenskaja, Kunsthistorikerin an dem wohl noch immer berühmtesten Museum Russlands und unter anderem Expertin für die Victoria von Calvatone, hat für diesen historischen Fehler eine profane Erklärung: „Die Skulptur zeigt eine europäische Frauenfigur in delikater Pose; da dachten die Verantwortlichen wohl automatisch an eine französische Herkunft der vergoldeten Frau.“ Anna Vilenskaja lacht. Natürlich weiß gerade eine Expertin wie sie, dass die eigentlichen Gründe für das Verschwinden der Göttin weit komplexer gewesen sein dürften: Die römische Großplastik nämlich hatte während des langen 19. Jahrhunderts zahlreiche Veränderungen über sich ergehen lassen müssen: Berliner Restauratoren hatten ihr einst einen neuen Arm hinzugefügt, und an ihren zarten Rücken hatten sie schwere Flügel anbringen lassen. Somit dürfte die antike Herkunft der zierlichen Frauenfigur mit den außergewöhnlich langen Beinen im Jahr 1946 nur noch Fachleuten offenkundig gewesen sein. Außerdem, so Vilenskaja, die in den letzten Jahren die Ikonografie der Victoria erforscht hat, sei die Bronze damals ohne Dokumente und Inventarnummer in den Petersburger Winterpalais gekommen. Eine Identifizierung sei zu dieser Zeit also nahezu unmöglich gewesen.

Goldene Gipsfigur einer geflügelten Siegesgöttin auf einer Kugel
Gipsabformung der Victoria von Calvatone © Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung
Historisches Foto eines prächtigen Treppenaufgangs mit Säulen und Büsten, mittig im Hintergrund die Victoria
Ein Foto aus dem Jahr 1934 zeigt die Victoria im Alten Museum © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V-Fotosammlung, 1.1.3-2874
Die flügellose Skulptur steht in einem Werkstattraum der Eremitage umgeben von Werkzeug und Verpackungsmaterial
Die Victoria von Calvatone in der Werkstatt der Eremitage © SPK / Stefan Müchler
Die beiden Flügel der Skulptur liegen auf einem Tisch
Die Flügel der Victoria © SPK / Stefan Müchler
Der Rücken der Skulptur mit metallenen Aufsätzen, um die Flügel zu befestigen
Während der Restaurierung hat man sich dazu entschlossen, die Flügel aus dem 19. Jahrhundert zu erneuern. © SPK / Stefan Müchler
Eine Tuschezeichnung der Skulptur ohne Flügel
© Museo Civico Ala Ponzone, Cremona

Vielleicht wäre das auch weiterhin so geblieben, hätte sich nicht irgendwann Götterschwester Fortuna der Siegesgöttin angenommen: Bei Recherchen in einem Moskauer Archiv nämlich entdeckte Vilenskajas Kollegin Anna Aponasenko im Jahr 2016 Unterlagen, die Aufschluss über Schicksal und Verbleib der Victoria geben konnten. Ein Glücksfall für die internationale Museumswelt: „Von nun an war klar, dass sich die historisch so bedeutsame Statue, die laut der Moskauer Dokumente vormals die Inventarnummer 5 getragen hatte, irgendwo in den Depots der Eremitage befinden müsse. Ihre Nummer hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach in den Wirren von Krieg und Nachkrieg verloren.“

Nur so war es wohl möglich gewesen, dass die Fachwelt fast 70 Jahre nichts mehr von Nummer 5 gehört hatte. Für die Staatlichen Museen zu Berlin jedenfalls galt die Siegesgöttin als vermisst. Doch als man sie schließlich in der Eremitage ausfindig gemachte hatte, verständigte man in Sankt Petersburg nach nur kurzer Zeit die Berliner Kollegen. In einem gemeinsamen Projekt, vereinbart zwischen Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage, und Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, machte man sich im Folgenden an die Erforschung und Restaurierung der hochkarätigen Fundsache. Immer wieder reisen seither Wissenschaftler zwischen Berlin und Sankt Petersburg hin und her, um auch noch die letzten Geheimnisse der vergoldeten Frau zu lüften.

„Diese Kooperation ist immens wichtig“, sagt Anna Vilenskaja über eine Zusammenarbeit, die zwischen Deutschen und Russen noch immer außergewöhnlich erscheinen mag. Offiziell nämlich erklärte 1996 ein nationales russisches Gesetz alle deutschen Kulturgüter aus öffentlichen deutschen Sammlungen, die infolge des Zweiten Weltkrieges nach Russland abtransportiert worden waren, zu russischem Eigentum. „Kompensatorische Restitution“ lautete auf russischer Seite die Sprachregelung. Doch Gespräche und Verständigungen, die sich von politischer Seite immer wieder als schwierig erweisen, sind auf kultureller Ebene längst vollkommen normal: Seit Jahren arbeiten russische und deutsche Museen, unterstützt von der Kulturstiftung der Länder, bei der Erforschung, Restaurierung und Ausstellung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern eng zusammen; und das, obwohl davon auszugehen ist, dass die einstigen deutschen Kulturschätze nie wieder in hiesige Museumssammlungen zurückkehren werden.

So also auch bei der Victoria von Calvatone: „Je länger wir uns gemeinsam mit der Figur beschäftigten, desto mehr neue Fragen tauchten bei uns auf“, sagt die Sankt Petersburger Historikerin Anna Aponasenko über die intensive Kooperation. Am Ende habe man mehr Fragen als Antworten gehabt. Doch es hätte auch manch ein Rätsel gelöst werden können: So müsse man heute davon ausgehen, sagt Aponasenkos deutscher Kollege Martin Maischberger, Stellvertretender Direktor der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, dass die Victoria ursprünglich gar keine Flügel gehabt habe. „Die Flügel sind erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinzugefügt worden, vermutlich durch einen Restaurator in Berlin.“ Für das deutschrussische Forschungsteam ein wichtiger Befund: „Jetzt steht die interessante These im Raum“, so Maischberger, „dass die Statue ursprünglich gar nicht Victoria darstellte, sondern eine andere Göttin: Luna, Aurora oder Diana. Für die Ergänzung der Flügel und Deutung als Victoria gibt es im 19. Jahrhundert mehrere Vorläufer und Parallelen.“

Ein solches Ergebnis wäre in der Tat wie ein Augenzwinkern der Geschichte: Eine Statue, die zum tragischen Symbol des deutsch-russischen Zerwürfnisses im 20. Jahrhundert hätte werden können und die dann doch Ausdruck einer einzigartigen Kooperation zwischen zwei wichtigen europäischen Kultureinrichtungen geworden ist, ist möglicherweise eben gar nicht eine Herrin über Sieg und Niederlage; sie steht eher für Anmut, Pracht und ein völkerverbindendes Ideal von Schönheit.

Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage, bringt das Verwirrspiel um die Victoria auf den Punkt: „Wir haben heute in der Welt so viele Probleme; da muss jeder seinen Job machen. Für Museumsleute besteht der nur darin, Objekte zu erforschen und die Ergebnisse der weltweiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Alle politischen Fragen oder die Fragen um Eigentumsrechte sind dem eindeutig nachgeordnet.“


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