Unterm Pflaster liegt die Stadt

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Wer im frühen 20. Jahrhundert die Moderne besichtigen wollte, fuhr ins Tiergartenviertel. Eine historische Spurensuche

Den Schädel tief im Boden versenkt, hält die überschlanke Menschenfigur sich lotrecht wie ein Yogalehrer, die Zehen in den Himmel gestreckt. Ist das ein Ikarus, der über dem Potsdamer Platz abgestürzt und mit dem Kopf im märkischen Sand stecken geblieben ist? Die sechs Meter hohe Bronzeplastik steht seit 2008 auf halber Treppe im Nordaufgang des Regionalbahnhofs und macht den halboffenen Glaspavillon zur Kunsthalle. In vier Sprachen ist auf dem runden Sockel zu lesen: „Lachhaft zu sagen, außerhalb des Himmels sei nichts, / Es gibt nicht eine einzige Welt, eine einzige Erde, / eine einzige Sonne, sondern so viele Welten, wie wir / leuchtende Funken über uns sehen.“

Blick auf einen von Büschen gesäumten Weg zu einem Gebäude.

„Durch Monet und Manet zu Money“, lästerten die Berliner einst über den Kunstsalon von Bruno und Paul Cassirer. Ein Hauch von Impressionismus liegt noch heute über dem Areal. © Christoph Mack

Die Verse stammen vom Dichterphilosophen Giordano Bruno, der im Jahr 1600 in Rom als Ketzer verbrannt wurde. Die schlanke Bronzefigur des Bildhauers und Bühnenbildners Alexander Polzin setzt mit ihrer expressiven Körperlichkeit einen Kontrapunkt zur unterkühlten Hochhausarchitektur des Nachwendeberlin am Potsdamer Platz, und sie scheint zu sagen: Du musst deine Nase hier ganz tief in den Sand stecken, um zu finden, was du beschreiben sollst.

Unter dem Pflaster des Potsdamer-Platz-Quartiers und des benachbarten Kulturforums liegt eine Topografie der Begegnungsorte mit moderner Kunst. Sie erfordert allerdings Geisterseherqualitäten, so gründlich hat die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Spuren verwischt. Bis dahin bildeten die Potsdamer Straße, die Bellevuestraße und die ausgelöschte Viktoriastraße ein magisches Dreieck des Kunsthandels. Er ermöglichte Begegnungen mit der Avantgarde, ehe diese in die Museen einzog.

Wer im frühen 20. Jahrhundert die Moderne sehen wollte, fuhr zum Potsdamer Platz und stromerte mit offenen Augen durch die umliegenden Straßen. Zunächst aber wartete am Ausgangspunkt die Terrasse des Café Josty. Sie befand sich dort, wo heute die Messingsterne des Boulevards der (Film-)Stars schimmern, auf dem Mittelstreifen der neuen Potsdamer Straße: „Wie da von allen Seiten die Verkehrsströme heranbrausen, die Elektrischen, die Autos, die hastend, nach ihrem Ziel hingepeitschten Menschen, wie sich das immerfort verknäuelt und wieder entwirrt, anschwillt und abebbt, wie das wogt und treibt und flutet und sich nie erschöpft.“ Für viele Künstler, schreibt der Kritiker Paul Westheim 1929, sei diese Aussicht „wie eine halbe Stunde am Strand, wie Ebbe und Flut, auch so die Nerven beruhigend …“ Ob Franz Kafka, Käthe Kollwitz oder George Grosz, sie alle saßen im Josty und sogen dieses moderne Berlin-Gefühl auf.

Das vom Kunsthändler Alfred Flechtheim gegründete Magazin „Der Querschnitt“ gab 1923 „dem Internationalen Kunsthandel zur Kenntnis: Im November eröffnen wir in Berlin W. 9 Köthenerstrasse No. 38 im Meistersaal-Gebäude die Galerie Grosz. George Grosz hat seine gesamte Produktion zur Verfügung gestellt. Der Vertrieb wird durch die permanente Ausstellung in unseren Räumen, sowie durch Versand und Ausstellungen im In- und Ausland organisiert.“ Das Gebäude des Meistersaals ist der einzige Ausstellungsort der Vorkriegszeit am Potsdamer Platz, der erhalten und durch eine Infotafel erkennbar ist. Sie zeigt auch Fotos der ebenfalls 1923 eröffneten Malik-Buchhandlung. Deren Schaufenster gestaltete John Heartfield, was wiederholt für Tumulte auf dem Bürgersteig sorgte.

Als eine der ersten deutschen Kunsthändlerinnen überhaupt eröffnete Mathilde Rabl im Jahr 1897 ihre Galerie in der Potsdamer Straße 134c. Diese Adresse ist legendär, weil in einer bezahlbaren Wohnung unterm Dach der alte Fontane seine großen Altersromane schrieb, ehe er 1898 dort starb. Exakt an der Stelle mündet heute die Eichendorffgasse in die Alte Potsdamer Straße. Der Ort ist durch eine Gedenktafel für Fontane an einem der Neubauten von Renzo Piano markiert. 1918 übernahm die bedeutende Kunsthandlung von Ferdinand Möller die Räume der verstorbenen Galeristin Mathilde Rabl. Die „Brücke“-Maler Heckel, Mueller und Schmidt-Rottluff waren der Galerie Möller eng verbunden, 1927 zog sie ans Schöneberger Ufer 38 und zeigte dort Klee, Feininger und Kandinsky. Ab 1938 gehörte Möller zu den Kunsthändlern, die beschlagnahmte „entartete“ Kunst ins Ausland verkaufen sollten, was etliche Werke vor der Vernichtung rettete.

Zwei Häuser weiter warb von 1913 bis 1928 Herwarth Waldens „Sturm“-Galerie für die jüngste Kunst der expressionistischen Generation. Das war auch die Redaktionsadresse der gleichnamigen Zeitschrift mit Texten von Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn oder Alfred Döblin. Zunächst hatte Walden eine Abrissvilla in der Tiergartenstraße 34a angemietet, dort sorgte er 1912 mit einer Wanderausstellung des „Blauen Reiters“ und der Präsentation italienischer Futuristen für Furore. Das „Sturm“-Archiv wird heute von der Staatsbibliothek verwahrt.

Blick durch Bäume auf ein Gebäude.
Wo sich einst Künstler, Intellektuelle und Journalisten tummelten, finden sich heute kaum noch Spuren vom einst hektischen Treiben der 20er-Jahre. © Christoph Mack
Blick durch ein Tor auf ein Gebäude.
Filigrane Schmiedearbeiten im Tiergartenviertel. © Christoph Mack
Bäume wachsen neben einer Brücke.
Natur und Architektur treffen sich im Tiergartenviertel. © Christoph Mack
Blick auf ein Teehaus in einem Garten.
Blick auf ein Teehaus in einem Garten.
Teehaus im Englischen Garten in Berlin. © Christoph Mack
Blick auf eine moderne Skulptur vor einem modernen Gebäude.
Wer im frühen 20. Jahrhundert die Moderne sehen wollte, fuhr zum Potsdamer Platz und stromerte mit offenen Augen durch die umliegenden Straßen. © Christoph Mack
Blick auf ein prunkvolles Gebäude mit Säulen und Pilastern.
Die Italienische Botschaft im Botschaftsviertel. © Christoph Mack
Blick auf einen von Bäumen und Büschen gesäumten Fluss.
Blick auf den Landwehrkanal. © Christoph Mack

Deren Neubau von Hans Scharoun wurde in Mauerzeiten auf der alten Potsdamer Straße errichtet. Die Stadtplanung der Nachwendezeit hat den alten Straßenverlauf respektiert. Ganz ausgelöscht ist hingegen die Viktoriastraße. Einziger Anhaltspunkt bleibt die Kaiserplatane nicht weit vom Haupteingang der Staatsbibliothek. Die westlich der Staatsbibliothek neu angelegte neue Potsdamer Straße macht einen respektvollen Bogen um den widerständigen Baum. Früher kreuzten sich an dieser Stelle Viktoria- und Margaretenstraße. Man stand in einem noblen Villenviertel und blickte in Richtung Tiergarten zum alten Kemperplatz.

Etwa auf Höhe des heutigen Musikinstrumenten-Museums eröffneten 1898 die Vettern Bruno und Paul Cassirer in der Viktoriastraße 35 ihren Kunstsalon. Einem breiten Publikum ermöglichten sie die Begegnung mit den französischen Impressionisten. „Durch Monet und Manet zu Money“, lästerten die Berliner über das Geschäftsmodell. Die Cassirers wurden 1899 von der Berliner Secession als Geschäftsführer berufen und planten deren spektakuläres Ausstellungshaus in der Charlottenburger Kantstraße 12. Später, in den Jahren 1928 bis 1930, fanden Ausstellungen der Secession in der Tiergartenstraße 21a statt, dort steht heute die italienische Botschaft.

Neben der Kaiserplatane ist der spitze Turm der Matthäikirche die einzige Landmarke am Kulturforum, an die sich die historische Fantasie anklammern kann. „Wie nach dem Rezept geschaffen, / Fein und niedlich ist der Tempel, / Baubeflißnen jungen Leuten / Ein Modell und Lehrexempel!“ – schon der Dichter Gottfried Keller war hingerissen von der preußischnüchternen Eleganz des 1844 bis 1846 nach Plänen von Friedrich August Stüler errichteten Kirchleins. „Polkakirche“ hieß sie, weil sich in den Lokalen am Tiergartenrand die Berliner vergnügten. Sie wurde der Kristallisationspunkt für das erste bürgerliche Villenviertel an der damaligen Peripherie Berlins, vor dem Potsdamer Tor.

Ein Gespür für die Proportionen der ehemaligen Wohnbebauung gibt die von Granat- und Bombensplittern zernarbte Fassade der Villa Parey an der Sigismundstraße 4a. Sie stand den Planungen für die 1998 eröffnete Gemäldegalerie am Kulturforum im Weg, wurde nach Protesten gegen den Abriss dann aber doch in die Seitenfront des Museumsbaus integriert. Zum Glück! So fällt es leichter, sich vorzustellen, dass auf dem Areal der heutigen Gemäldegalerie bis 1925 Eduard Arnhold, einer der bedeutenden Berliner Mäzene, residierte. Und dass in der Sigismundstraße 3 Adolph Menzel 30 Jahre lang bis zu seinem Tod 1905 arbeitete – in einem „herrschaftlichen Haus mit hohem Mietzins“, wie der Maler empört dem Vermieter schrieb, als von der Hinterwand vor seinen Atelierfenstern der Putz runterfiel.

An der Tiergartenstraße 15 bekommt die einstige Bewohnerschaft des Villenviertels ein Gesicht. Aus der glatten Fassade der baden-württembergischen Landesvertretung blickt James Simon auf die Joggerinnen und Spaziergänger am Tiergartenrand. Unter dem Bronzerelief des gutmütigen Charakterkopfes würdigt eine Inschrift den „Mäzen, Wohltäter, Patrioten und jüdischen Weltbürger“, der bis 1927 hier wohnte und die Berliner Museen um so viele Kunstschätze, darunter die Nofretete, bereichert hat.

Auf die Drangsalierung, Beraubung und Vertreibung der als „Nichtarier“ stigmatisierten Kunstsammler und Kunsthändler durch die Nationalsozialisten folgte 1938 der Abriss Dutzender Wohnhäuser auf dem Areal des heutigen Kulturforums. Platz sollte geschaffen werden für die Welthauptstadtfantasien Adolf Hitlers und seines Chefplaners Albert Speer. Der Zweite Weltkrieg hinterließ ein Ruinenfeld nahe der Sektorengrenze. Dort plante und realisierte West-Berlin seit den 60er-Jahren aufsehenerregende Kulturbauten wie die Philharmonie, die Neue Nationalgalerie, das Staatliche Institut für Musikforschung mit seinem Musikinstrumenten-Museum und die Staatsbibliothek, doch der Traum von einem belebten Kulturforum erfüllte sich nicht, auch nicht nach der Wiedervereinigung.

Die abgerissene Tradition des Ausstellens moderner Kunst im Tiergartenviertel bekam 1968 mit der Eröffnung der Neuen Nationalgalerie wieder einen festen Platz. Auch für den Architekten Ludwig Mies van der Rohe persönlich schlug das Projekt eine Brücke in die Vergangenheit: Auf der anderen Seite des Landwehrkanals hatte er seit 1915 sein Büro, ehe er 1938 in die USA emigrierte.

Jetzt signalisiert die Großbaustelle für das Museum des 20. Jahrhunderts in der Mitte des Kulturforums: Es wird bald mehr Platz für eine Präsentation der angewachsenen Sammlungen geben. Wenn die Bauzäune eines Tages abgebaut sind, sollen sich in dem neuen Ausstellungsgebäude zwei öffentliche Boulevards kreuzen. Das stellt die historischen Gegebenheiten quasi auf den Kopf. Früher flanierte man hier durch die Straßen einer blühenden europäischen Stadt zur Kunst. In Zukunft soll der Museumsneubau mehr urbanes Leben am Kulturforum ermöglichen. Damit es seinem Namen gerecht wird und wieder zum Spazieren, Bummeln und Verweilen verführt.


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