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„Mich interessiert dieser Kipp-Moment“

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Veronika Kellndorfer ist „eine Malerin, die mit Fotografie arbeitet“. Ihre fotografische Malerei überträgt sie auf große, oft mehrteilige Glastafeln, die ganz bewusst mit Transparenz und Reflexionen, Spiegelungen und Seh-Störungen spielen. In der Ausstellung „Screens and Sieves“ brachte sie die Neue Nationalgalerie in das Landhaus Lemke. Ein Gespräch über Mies hoch 3, Architektur als Reibungshorizont und die Berührung durch einen Lichtstrahl.

Die Neue Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe ist ein Tempel der Moderne, eines der wichtigsten Bauwerke des 20. Jahrhundert. Eine Ikone. Soweit klar. Du bist dem Haus 2015 begegnet, kurz nach der Schließung und vor der Sanierung. Dort sind verschiedene Arbeiten für die Ausstellung „Screens and Sieves“ im Mies van der Rohe Haus entstanden. Wie würdest Du die Neue Nationalgalerie als Kunstwerk beschreiben?

Veronika Kellndorfer: Ich sehe darin erst einmal nur Architektur. Denn, wenn ich beschreiben sollte, wie man sich als Künstlerin in der Neuen Nationalgalerie fühlt, dann müsste ich auch vom Zorn sprechen, den dieses Gebäude auslöst. Viele sagen ja, dass sich die obere Halle einfach nicht für Ausstellungen eignet. Große Künstler sind hier schon gescheitert. Jannis Kounellis zum Beispiel. Es gibt einfach nicht viel, was in der Glashalle funktionieren würde. Gleichzeitig kenne ich in ganz Europa keinen anderen Museumsbau, der mich ihn ähnlicher Weise inspiriert. Keinen Gehry. Keinen Sauerbruch. Keinen Braunfels. Ich würde gern hier ausstellen, ausloten wie sich meine Arbeiten mit dem Haus kurzschließen. Zu meinen Entdeckungen gehört, dass sich das Haus auch sehr stark von seiner Funktion löst, ins Stadtgefüge eingreift. Ludwig Mies van der Rohe schafft eben Territorien. Wenn man an einem Sonntagnachmittag in der Halle steht und draußen die Skater fahren sieht, dann entsteht wirklich dieses berühmte Fließen von Innen nach Außen, dann kippt es wirklich, um auf Deine Frage zurückzukommen, in ein Kunstwerk. Diese Ambivalenz fasziniert mich sehr. Mich interessiert dieser „Kipp-Moment“, wo Architektur Bild wird.

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Veronika Kellndorfer: Ventilation Shaft, Sieb, Textiles Gewebe auf Aluminiumrahmen 200 x 410 cm. © 2020 Ulrich Schwarz, all rights reserved

Nochmal nachgefragt: Welche künstlerischen Prinzipien faszinieren Dich bei Mies? Ist es vielleicht diese Ästhetik der Ordnung?

Kellndorfer: Ich habe Malerei studiert und die abstrakte Farbfeldmalerei hat mich immer begeistert. Da wird Geometrie natürlich wahnsinnig interessant. Die Neue Nationalgalerie basiert ja auf einem Rastermodul. Das ist etwas, das in meiner Arbeit auch sehr wichtig ist. Und dann gibt es wieder bei Mies sehr bildhauerische Elemente. Da schwebt eine schwere Decke nur auf den Außenstützen und suggeriert eine Aufhebung der Schwerkraft. Gleichzeitig denkt man aber drinnen, die Lüftungsschächte würden das Dach ebenfalls stützen, was sie aber gar nicht tun. Sie sind einfach nur da, um die Versorgungsschächte mit Marmorstruktur zu verkleiden.

Das ist schon ein absurder Moment. Und dann setzt sich die erwähnte Marmorstruktur plötzlich draußen mit der Zeichnung der Bäume fort. Mies ist oft fotografiert worden, über Mies ist alles nur Erdenkliche geschrieben worden. Mir geht es darum, wieder etwas freizusetzen, was es in der Wahrnehmung so noch nicht gab. Wenn man in der Neuen Nationalgalerie steht, nimmt man die Spiegelungen wahr, die das Auge ja eigentlich ausblendet. Den Stadtraum mit seinen Zeitspuren, wie er jetzt noch existiert, wird es so nie wieder geben, weil alles ständig in Bewegung ist. Der Neubau von Herzog & de Meuron wird den Ort sehr verändern. Deshalb war es für mich auch ein genialer Moment, das Haus in einem Moment der Leere zu fotografieren. Draußen nur Stüler und Scharoun und die Bäume am Landwehrkanal. All das verdichtet sich zu einem unwiederbringlichen Konglomerat.

Hättest Du an diesem Haus auch scheitern können?

Kellndorfer: Ja, klar. Als mich der Leiter der Neuen Nationalgalerie, Joachim Jäger, fragte, ob ich zu diesem Haus arbeiten wolle, wusste ich wirklich nicht, was ich noch beitragen kann. Ich steckte damals tief in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der brasilianischen Moderne – mit Lina Bo Bardi. Für mich war die Arbeit zur Neuen Nationalgalerie eine Art Flashback in die eigene Vergangenheit, denn ich hatte im Jahr 2000 den Barcelona-Pavillon fotografiert. 2015 erhielt ich auch die Einladung zur Architekturbiennale nach Chicago. Sharon Johnston und Mark Lee kuratierten die 2017er Ausgabe unter dem Titel „Make New History“. Sie waren begeistert, die Neue Nationalgalerie nach Chicago zu holen. Und dann gab es noch eine Station. Barry Bergdoll zeigte eine Ausstellung zum McGormick-Haus von Mies im Elmhurst Museum. So schließt sich mit dem Landhaus Lemke der Kreis.

Du hast im Mies van der Rohe Haus ausgestellt und man es hatte es eigentlich mit einer Mixtur aus drei verschiedenen Ebenen zu tun, die sich hier treffen: Da ist Mies als Gegenstand, dann gibt es die Neue Nationalgalerie als Tempel der Moderne und dann auch noch das Landhaus Lemke als realer Ausstellungsort. Wie hast Du dieses Mies hoch 3 erlebt?

Kellndorfer: Es hätte natürlich einen Overkill geben können. Aber der Ausstellungszyklus „Raum-Zeit-Odyssee“ wies in eine andere Richtung. Für mich war es wahnsinnig aufregend, die Neue Nationalgalerie in einem Wohnhaus von Mies zu zeigen – mit seinen Spuren von Leben, von Zeit, von den Bewohnern. Da kam dann eine Arbeit ins Schlafzimmer, die andere ins Wohnzimmer usw. Diese Verschränkung der Zeitebenen habe ich andernorts nicht. Da passiert etwas in dieser Verschränkung.

Was denn genau?

Kellndorfer: Hier ist Ziegel und Glas. Und die Neue Nationalgalerie ist ästhetisch dreißig Jahre weiter. Sie ist eine archäologische Stätte, die Moderne als unsere Ruine, aus der wir auch als bildende Künstler schöpfen. Ich suchte also für das Mies van der Rohe Haus nach einem Bruch und plötzlich kam das Sieb vom Siebdruck ins Spiel, also das Textile, was bei Mies ja auch immer eine Rolle spielt. Das war auch damals mein Aufhänger beim Barcelona-Pavillon, wo sich der große, rote Samtvorhang zum Glas, zum Stein gesellt.

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Blick in die Ausstellung „Screens and Sieves“ im Landhaus Lemke. © 2020 Ulrich Schwarz, all rights reserved
Ein modernes Gebäude mit großen Fenstern bei Nacht.
Die Ausstellung „Screens and Sieves“ im Landhaus Lemke bei Nacht. © 2020 Ulrich Schwarz, all rights reserved
Blick in einen Ausstellungsraum.
Veronika Kellndorfer: Ventilation Shaft, Screens and Sieves, 2020. © Stefan Meyer
Haus im Grünen.
Das Mies van der Rohe-Haus. © Stefan Meyer

Wie wichtig ist das Material Glas für Deine Kunst?

Kellndorfer: Einfach substantiell. Ich bin ja keine Fotografin, sondern eine Malerin, die mit Fotografie arbeitet und dann noch einen Transformationsprozess dazwischenschaltet. Deshalb hängen hier auch keine Fotografien, sondern Siebdrucke. Die sind auch noch mal Reduktionen. Der Gegenstand fällt mit dem Material zusammen. Das Glas nimmt die Spiegelungen und Reflexionen aus dem Raum wieder auf. Nicht nur den Raum, auch den Betrachter. Beim Haus Lemke kommt dazu, dass sich hier die realen Fensterstrukturen mit denen der gedruckten Neuen Nationalgalerie verbinden. Es war ein Geschenk, hier auszustellen. Der Ort, das Territorium sind besonders, weil hier Innen und Außen wirklich ineinandergreifen. Schon wie das Haus auf diesem Grundstück sitzt, wie es mit der spiegelnden Seefläche korrespondiert. Das funktioniert natürlich im städtischen Raum ganz anders.

Du erzeugst mit Deinen Arbeiten Raum auf vielfältige Art und Weise. Es entstehen manchmal nur durch einen Lichteinfall, einen Sonnenstrahl emotionale Räume. Diese emotionalen Momente eines intimen Wohnhauses verschränkten sich mit dem Tempel Neue Nationalgalerie.

Kellndorfer: Das ist eine schöne Beobachtung. Ich habe aber die kunstleere Neue Nationalgalerie auch sehr intim wahrgenommen. Plötzlich kamen die Erinnerungen an meine Studienzeit in den Achtzigern in West-Berlin zurück, wo die Neue Nationalgalerie immer ausstrahlte: Wenn Du da gelandet bist, dann hast Du es geschafft. Weil sich dieses Haus auch immer behauptet hat. Es war eben eine Botschaft, ausgerechnet im Revolutionsjahr 1968, wo überall Glas klirrte, auf diesen Glaskasten zu setzen. Das ist ein Statement für sich selbst. Der Aufbruch in die Moderne, der von dieser Stadt ausging, hat mich immer berührt. Mich interessiert aber die gesellschaftliche Utopie von Architektur, die auch hier im Haus Lemke steckt. Moderne Architektur ist etwas für alle. Wir kennen doch die Fragen, die auch Neutra und Schindler gestellt und beantwortet haben: Wie wollen wir leben, welche Dimension brauchen wir? Mich wühlt auf, dass diese gesellschaftliche Utopie von Architektur derzeit konfrontiert ist mir einem ökonomischen, geldgetriebenen Architektur-Eigentums-Schrott. Diese neue Geld-Spießigkeit hätte ja fast auch die Friedrichswerdersche Kirche zum Einsturz gebracht. Für mich ist Architektur auch sehr politisch und ich finde es als Malerin interessant, mich an der Geschichte der modernen Architektur förmlich abzuarbeiten. Kunst hat etwas mit Radikalisierungen zu tun. Man darf Erinnerungen haben, aber es muss auch weitergetrieben werden. Architektur ist mein Reibungshorizont.

Du hast auch gesagt, dass Du vom Haus Lemke gerührt bist. Zwei Arbeiten sind dazu entstanden, viel kleinere, die nicht überwältigen, sondern die Besucherinnen und Besucher zur Konzentration zwingen. Es sind eher Skulpturen. Wie wichtig war Dir diese Arbeit?

Kellndorfer: Ich hatte das starke Bedürfnis, mit diesem Ort Kontakt aufzunehmen. Das mache ich, in dem ich fotografiere. Es war ein Frühlingstag und ich habe wirklich diese wechselnden Lichtstimmungen bewundert. Klar war schnell, dass es kleine Glasarbeiten zum Haus sein sollten. Aber welche für den Raum, nicht für die Wand. Es sind die Türen, die sich mit den großen Gläsern verbinden, aber auch für sich stehen.

Wie wichtig ist Dir eigentlich die Farbe?

Kellndorfer: Ich erinnere mich an mein Studium, wo es Kommilitoninnen gab, die tagelang vor grauen Farben saßen, über monochrome Flächen meditierten und wochenlang über das richtige Grau grübelten. Es wurde eine Übersensibilität geschaffen. Das war für mich ein Impuls: Ich will das, was ich sehe, in den Bildern haben. Gleichzeitig muss diese Sensibilität, dieses Farbempfinden mit hinein. Dieser Spagat ist beim Siebdrucken ein ganz wichtiger Prozess. Schwarz-Weiß ist großartig, aber Farbe und Transparenz sind für andere Motive die Essenz. Ich kann auch tagelang über Farben meditieren und mich mit Farbfächern beschäftigen. Dann lasse ich Mischungen in der Fabrik anfertigen, bis ich zufrieden bin. Die Transparenz des Siebdrucks braucht den Komplementärkontrast der spiegelnden Farben durch die Beschichtung. Alles bleibt durchlässig und transparent. Und dann kommen die Lichtreflexe im Raum dazu. Malerei als Projektionsfläche – vom Raum in die Fläche. Das ist ganz zentral. Hier in der Ausstellung hängt dieser popartige, rote Rahmen, der nichts anderes als ein Sieb mit Klebstoff ist. Das ist das Zeichen eines komplexen Zusammenspiels zwischen den Handwerkern in der Fabrik und mir. Ich kann nicht die totale Kontrolle über meine Arbeiten übernehmen, ich gebe auch was ab. Im Herstellungsprozess gibt es dann immer wieder Überraschungen. Und der zweite Moment der Verblüffung tritt ein, wenn ich die Arbeiten im Raum sehe. Es geht um etwas Prozesshaftes. Das Sieb ist wie ein Zeuge. Ich meine das nicht didaktisch, sondern als Verweis. Auch der Prozess selbst hat Bildcharakter.

Es ist dieses Interagieren, das Deine Arbeiten auszeichnet – mit Mies, mit dem Raum, mit den Zeitschichten, mit der Moderne und dem Material Glas. Die Häuser von Mies sind ja selbst Bildmaschinen. Man kann sie leerstehen lassen und sie produzieren trotzdem Bilder. Egal welche Jahreszeit, Bilder gibt es immer.

Kellndorfer: Genau das war hier im Mies van der Rohe Haus für mich auch spürbar. Es sollten möglichst viele internationale Künstlerinnen und Künstler hier arbeiten. Es ist kein Ausstellungsraum wie jeder andere. Man kommt nicht umhin, die Architektur mit zu reflektieren. Dieses Haus strahlt von außen in die Stadt hinein.


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