Schwarz-Weiß Aufnahme einer Straße

Atlantis der Moderne

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Forschungsprojekt zum Tiergartenviertel: Joachim Brand, stellvertretender Direktor der Kunstbibliothek, wünscht sich eine lebendige Erinnerungskultur

Wenn Joachim Brand, der stellvertretende Direktor der Kunstbibliothek, aus den großen Fenstern seines Büros am Kulturforum schaut, dann muss er immer wieder aufs Neue daran denken, was hier früher einmal war. Er sieht die Staatsbibliothek, die Philharmonie und die Baustelle des Museums des 20. Jahrhunderts – und weiß: hier war einst das Tiergartenviertel mit seinen herrschaftlichen Villen und großbürgerlichen Häusern, den Büros, Cafés und Hotels. Es war die bevorzugte Wohngegend vieler Unternehmer und Mäzene, Künstlerinnen und Künstler, Bohemiens und Publizisten. Brand möchte die Erinnerung daran wachhalten. „Was wir brauchen ist ein Ort, an dem die Museumsbesucher und Spaziergänger mehr über das alte Tiergartenviertel und seine Menschen und ihre dramatischen Schicksale erfahren können, an dem sie lernen können, dass hier prominente jüdische Kunstförderer lebten und arbeiteten“, sagt Brand. „Ich wünsche mir eine systematische, lebendige Erinnerungskultur.“

Schwarz-Weiß Aufnahme einer Straße

Blick vom Landwehrkanal in die Matthäikirchstraße. Im Hintergrund die Kirche St. Matthäus. Auf diesem Teil der früheren Matthäikirchstraße steht heute die Neue Nationalgalerie. © Bildarchiv Foto Marburg/ Türck

Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet Brand am Kulturforum. Das Thema treibt ihn um. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die späte Weimarer Republik wurde im Tiergartenviertel moderne Kunst geschaffen, gesammelt und ausgestellt. Begeistert erzählt Brand von dem Verleger und Galeristen Paul Cassirer, der seinen glamourösen Kunstsalon just an der Stelle hatte, an der heute die Philharmonie steht. Und er berichtet von Curt Glaser, dem ehemaligen Direktor der Kunstbibliothek, der ebenfalls eine bedeutende Kunstsammlung besaß, ein Ort, an dem sich Persönlichkeiten der Kunstwelt regelmäßig zu Tee und Likör trafen. Brand erinnert an die Schauspielerin Tilla Durieux, die Dichterin Else Lasker-Schüler und an den Verleger Ernst Rowohlt. Im Tiergartenviertel lebte James Simon, der großzügige Kunstmäzen, genauso wie das Kunstsammler-Ehepaar Johanna und Eduard Arnhold, die in zwei Sälen Werke von Manet und Monet, Pissarro und Liebermann zeigten.

Es war ein „Atlantis der Moderne“, wie Brand sagt, eine Welt, die die Nationalsozialisten gezielt vernichteten und die nach dem Krieg ebenso gezielt in Vergessenheit geriet. „Das zementierte Schweigen in der Nachkriegszeit war Absicht“, ist Brand überzeugt. Auf dem Gelände des heutigen Kulturforums sei im wörtlichen und im übertragenen Sinne tabula rasa gemacht worden. Von den einstigen Gebäuden erhalten sind nur noch die Matthäus-Kirche in der Mitte des Areals, die Villa Gontard in der Stauffenbergstraße (heute Sitz der Generaldirektion der Staatlichen Museen) und die in die Gemäldegalerie integrierte Villa Parey.

Wie könnte man – wissenschaftlich fundiert – an das Tiergartenviertel erinnern? Wie könnte man seiner Bewohner gedenken, ihre Schicksale erzählen? Wie könnte die Bedeutung des Tiergartenviertels als Zentrum moderner Kunst und Literatur angemessen gewürdigt werden, ausgerechnet hier, wo auch heute die Kunst mit dem Kulturforum und seinen großen Einrichtungen zuhause ist? Um diese Fragen zu beantworten, hat die Kunstbibliothek jetzt ein Forschungsprojekt gestartet, das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien intensiv gefördert wird.

Die Stelle für eine Wissenschaftlerin ist seit Februar ausgeschrieben. Ihre Aufgabe wird es sein, Quellenforschung zu betreiben, die einstigen Eigentumsverhältnisse in den Bauarchiven zu erkunden, alle noch bestehenden Puzzleteile aus Wort und Bild zusammenzutragen – und eine Dokumentation zu erstellen, die vielleicht später einmal die Grundlage für eine Ausstellung sein könnte. „Ich wünsche mir einen zentralen Erinnerungsort am Kulturforum. Das könnte ein Besucherzentrum sein, oder auch eine ausführliche Präsentation im Internet, je nachdem, welche Zielgruppe angesprochen werden soll“, sagt Brand.

Schwarz-Weiß Foto eines Mannes
Eduard Arnhold in seiner Galerie, ca. 1905 © bpk
Schwarz-Weiß Gemälde eines Mannes
Leopold von Kalckreuth: Paul Cassirer mit Zigarre in der Hand, o. J. © bpk
Schwarz-Weiß Foto einer Frau
Tilla Durieux als Zarin Katharina in dem Stück "Spielereien einer Kaiserin" von Max Dauthendey, um 1911 © bpk
Ausstellungsplakat auf gelben Papier
Ausstellung von Lovis Corinth im Salon Paul Cassirer, 1908 © Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf Dietmar Katz

Dabei muss er nicht von vorne anfangen. Einiges ist in Sachen Erinnerung am Kulturforum schon geleistet worden. Da gibt es die Stele in der Sigismundstraße, direkt hinter der Gemäldegalerie, die seit 2021 an die Geschichte des Ortes und seine prominenten Bewohner erinnert. Dort ist auch eine Karte zu sehen mit den alten Straßenzügen und ein Foto. Brand verweist auch auf die verschiedenen Plaketten: die Gedenktafel für James Simon an der baden-württembergischen Landesvertretung in der Tiergartenstraße, die Gedenktafel für Curt Glaser im Eingangsbereich der Kunstbibliothek und die Gedenkstätte für die „Euthanasie“-Morde hinter der Philharmonie. „Aber all das ist rudimentär, fragmentarisch. Man müsste es zusammen denken“, sagt Brand.

Er berichtet auch von der Arnhold-Initiative, einem Zusammenschluss namhafter, engagierter Kunstliebhaber und Geschichtsfachleute. Ihr Ziel ist es, die Piazzetta vor dem Kulturforum umzubenennen in „Johanna-und-Eduard-Arnhold-Platz“, und sie zudem eventuell so umzugestalten, dass Parallelen zum Garten in der Villa Massimo in Rom entstehen, der Deutschen Akademie in Rom, die die Arnholds einst so großzügig dem preußischen Staat geschenkt hatten. Stolz ist Brand auf das Projekt „Utopie Kulturforum“, bei dem sich im vergangenen Jahr alle Anrainer erstmals zusammenfanden, um die Geschichte des Areals sichtbar zu machen – mit Ausstellungen, Gesprächen, Kunstaktionen. Da wurde so richtig deutlich, wie groß der Forschungsbedarf ist, wie viel Arbeit noch nötig ist, um die kunst- und kulturhistorische Bedeutung des Ortes wirklich zu verstehen, und um der Menschen zu erinnern, die hier lebten.

In dem neuen Forschungsprojekt soll darum die Kompetenz aller Bibliotheks-, Museums-, Kultur- und Forschungseinrichtungen des Kulturforums mit einbezogen werden. Es ist eine Arbeit, die sich mehrfach lohnt. Denn: „Wenn wir die Vergangenheit aufarbeiten und uns mit ihr versöhnen, können wir in die Zukunft blicken“, sagt Brand. So könnte auch noch etwas ganz anders gelingen, etwas, dass über das eigentliche Forschungsobjekt hinausweist: dass nämlich das Kulturforum nach all den Jahrzehnten vielleicht endlich seine Identität findet.


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