Die Ethnologen sind keine Täter

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In Diskussionen um das Humboldt Forum geht es oft auch darum, wie die Museen, deren Sammlungen zukünftig im Berliner Schloss ausgestellt werden, mit ihren Beständen aus der Kolonialzeit umgehen. Viola König, die Direktorin des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin, erklärt, wie Projektforschung an ethnologischen Objekten funktioniert.

Die Debatte im feuilletonistischen Sommerloch kreist um die Provenienzforschung an ethnologischen Sammlungen, die ins Humboldt-Forum ziehen sollen. An ihnen klebe das Blut der Kolonialzeit, heißt es.

Eine Delegation von Wissensträgern der Huicholes, einer indigenen Gruppe aus Mexiko, ordnet die Sammlung von Ritualgegenständen ihrer Vorfahren im Ethnologischen Museum wieder zurück in die korrekte Anordnung. Diese war im Lauf der Zeit im Museum verloren gegangen

Eine Delegation von Wissensträgern der Huicholes, einer indigenen Gruppe aus Mexiko, ordnet die Sammlung von Ritualgegenständen ihrer Vorfahren im Ethnologischen Museum wieder zurück in die korrekte Anordnung. Diese war im Lauf der Zeit im Museum verloren gegangen. © Viola König

Im Prinzip seien diese Sammlungen sowieso nur zusammengeraubt, müssten entsprechend erforscht und letztlich zurückgegeben werden. Die energische Forderung nach mehr Provenienzforschung wird zusehends lauter von der Politik gestellt, die Museen jahrzehntelang zu verstärkten Ausstellungsaktivitäten antrieb und von diesem vermeintlich „musealen Erfolg“ letztlich ihre Finanzierung abhängig machte. So entstand der Eindruck, dass in den Museen keine Herkunftsforschung geleistet oder als unwichtig erachtet wird. Das Humboldt-Forum ist schon deshalb ein erfolgreiches Projekt, weil jetzt endlich dieser über Jahrzehnte eher als sekundär erachtete Forschungsbereich auch öffentlich die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient und die auch finanziell gefördert wird. Dabei wird hierzulande davon ausgegangen, dass man die Sammlungen aus allen Winkeln der Welt gleich behandeln könne. Genau dagegen regt sich nun Widerstand vor Ort. Gefordert wird eine selbstbestimmte Forschung jenseits von Opfer-Täter-Prämissen.

Doch Provenienzforschung ist nur ein Teil der komplexen Untersuchung ethnologischer Sammlungen, bei der die Objektbiografien inklusive aller Objektbewegungen im Fokus stehen. Provenienz zielt auf die Perspektive der heutigen Eigentümer, eine Objektbiografie hingegen betrachtet den Gegenstand selbst. Provenienzforschung, die sich darauf reduziert zu rekonstruieren, unter welchen Umständen Sammlungen nach Europa gelangten, ist unvollständig und einseitig, ja eurozentrisch.

Auf welchen Wegen kamen die Objekte in die Sammlung?

Neben der Rekonstruktion der Biografie und den Herkunftswegen der Objekte ist die Decodierung ihrer Funktion(en) und Aussagen untrennbarer Teil der Gesamtforschung. Ein Objekt, dessen Herkunft zwar bekannt ist, von dem man aber weder Funktion noch Kontext noch Transformationen kennt, ist nicht nur unbefriedigend erforscht, sondern betont lediglich die westliche Perspektive.

Erst alle Faktoren zusammen ergeben ein schlüssiges Bild. Sie sind Voraussetzung für die Entscheidung, ob die Objekte in einem Museum aufbewahrt oder gegebenenfalls in eine community zurückgegeben werden. Museen in den Vereinigten Staaten bewahren mittlerweile wieder zurückgegebene Objekte für die communities auf.

Provenienzforschung, die sich darauf reduziert zu rekonstruieren, unter welchen Umständen Sammlungen nach Europa gelangten, ist unvollständig und einseitig, ja eurozentrisch

In der Erforschung der Herkunftswege ethnologischer Objekte spielen Mittelsmänner und Händler, darunter auch indigene, eine wichtige Rolle. Ihr persönlicher Hintergrund ist aufschlussreich, wenn es um die Frage geht, warum welche Objekte gesammelt wurden. Vermittler sind häufig nur lokal bekannt. Daher ist die direkte Kooperation mit den Herkunftsgesellschaften unerlässlich. Die Geschichte kann nur im engen Austausch aufgearbeitet werden, denn vor Ort gibt es Kenntnisse, die im Museum nicht bekannt sind und umgekehrt. Die Sammler aus Europa waren stets auf lokale Netzwerke angewiesen.

Die zahlenmäßig umfangreichste Sammlung des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin stammt übrigens nicht aus den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, Ozeanien oder Asien, sondern aus Nord- und Südamerika. Auf dem Doppelkontinent besaß Deutschland zwar keine Kolonien, aber dorthin hatte ab dem 19. Jahrhundert eine Massenauswanderung stattgefunden.

Aktive Handelshäuser agierten zwischen ihrem amerikanischen Standort und der Heimat. Manche wie Gretzer und Gildemeister in Peru kehrten nach Jahrzehnten erfolgreicher Geschäftstätigkeit mit riesigen Sammlungen nach Deutschland zurück.

Der Weg der Rückverfolgung ist weit

Vor allem aber halfen die örtlichen Kontaktpersonen Sammlern wie Johan Adrian Jacobsen oder Eduard Seler, die die Museen Europas ab dem 19. Jahrhundert ausgesandt hatten, bei der Festlegung ihrer Reiserouten. Sie gaben Tipps, Warnungen, aber auch Objekte ihrer persönlichen Sammlungen ab.

Selbst wenn ihre Namen wie Paul Schulze oder Wilhelm Bauer bekannt sind, ist der Weg der Rückverfolgung der Objekte weit. Meist verliert sich ihre Spur bei namenlosen Einlieferern an einem örtlichen Handelsposten und später im Kunsthandel. Woher die Objekte stammen, bleibt weiterhin unklar. Wie gehen wir nun im Ethnologischen Museum mit diesen Fällen um? Zunächst kommen Decodierungstechniken zum Einsatz wie Stilvergleich, Materialanalyse, vor allem aber Kenntnisse über die (materielle) Kultur der Produzenten.

Interessant ist dabei, dass die indigen-europäischen Terms of Trade mit ihrem durchaus beiderseitigen Interesse an „Exotika“ auch hybride Schöpfungen in den globalen Handel brachten: Hirschlederwesten mit britischen Marineknöpfen und chinesischen Münzen oder schweinslederne Kisten mit floralen Dekors, eine Adaption chinesischer Teekisten. Diese Beispiele von der amerikanischen Nordwestküste sind nur zwei Fälle unter vielen, die in ethnologischen Museen der Welt zu entdecken sind.

Ausfuhrverbote blieben oft ohne Wirkung

Zuweilen wurden Provenienzen bewusst von den Sammlern verschwiegen, beispielsweise bei archäologischen Objekten. Und zwar nicht etwa weil Raubgrabungen damals illegal waren, sondern um die Quellen, die man selbst noch weiter auszubeuten gedachte, nicht preiszugeben.

Die Ausfuhr von Archäologica wurde in vielen Staaten Lateinamerikas schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesetzlich untersagt, was meist ohne Wirkung blieb. Europäische Wissenschaftler arbeiteten mit lokalen Sammlern weiterhin Hand in Hand, die als stolze Vertreter der soeben unabhängig gewordenen jungen Nationalstaaten die Artefakte in europäischen Museen als aufgewertet erachteten.

Eine Delegation von Wissensträgern der Huicholes, einer indigenen Gruppe aus Mexiko, ordnet die Sammlung von Ritualgegenständen ihrer Vorfahren im Ethnologischen Museum wieder zurück in die korrekte Anordnung. Diese war im Lauf der Zeit im Museum verloren gegangen
Der Berliner Sammler Eduard Seler und seine Ehefrau Caecilie Seler-Sachs mit mexikanischen Sammlern und Archäologen in Monte Albán, Oaxaca/Mexiko, ca. 1895 © Ibero-Amerikanisches Institut / Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Tintenfischmaske von den Tlingit in Südalaska, vor 1881. Der Sammler Paul Schulze, Präsident der North-West-Trading-Company stammte aus Berlin. In seine Handelsfiliale mitten im Wohngebiet der Chilkat und Hoonah, kamen die Indianer von nah und fern. Erpicht auf die begehrten Industrieerzeugnisse der Zivilisation, brachten sie die Felle von erlegten Tieren zum Tausch, so eine zeitgenössische Quelle
Tintenfischmaske von den Tlingit in Südalaska, vor 1881. Der Sammler Paul Schulze, Präsident der North-West-Trading-Company stammte aus Berlin. In seine Handelsfiliale mitten im Wohngebiet der Chilkat und Hoonah, kamen die Indianer von nah und fern. Erpicht auf die begehrten Industrieerzeugnisse der Zivilisation, brachten sie die Felle von erlegten Tieren zum Tausch, so eine zeitgenössische Quelle © Dietrich Graf / Ethnologisches Museum Berlin, SMB / SPK, 1999
Tintenfischmaske von den Tlingit in Südalaska, vor 1881. Der Sammler Paul Schulze, Präsident der North-West-Trading-Company stammte aus Berlin. In seine Handelsfiliale mitten im Wohngebiet der Chilkat und Hoonah, kamen die Indianer von nah und fern. Erpicht auf die begehrten Industrieerzeugnisse der Zivilisation, brachten sie die Felle von erlegten Tieren zum Tausch, so eine zeitgenössische Quelle
Der Textkaufmann Wilhelm Gretzer (1847–1926), der 30 Jahre in Peru lebte, erwarb eine riesige Sammlung überwiegend archäologischer Objekte in Peru, darunter auch die 15-teilige Serie der Porträts der Inka aus dem 19. Jahrhundert © SMB-Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Was treibt die Vermittler vor Ort an?

In der aktuellen Sammlungsbearbeitung des 21. Jahrhunderts treten Vermittler vor Ort wieder in Erscheinung. Sie gehören selbst nicht einer indigenen Gruppe an, vertreten diese aber angeblich. Dabei gilt es seitens der Museen genau zu prüfen: Wen vertreten sie? Was ist ihre Motivation? Sind sie autorisiert und wenn ja von wem? Welche authentischen Informationen haben sie und wie gehen sie mit ihnen um? Leben sie schon längere Zeit vor Ort? Warum haben sie das Vertrauen der communities? Stellen sie berechtigte Kontakte nach Europa her oder haben sie eigene, gar politische Interessen?

Die Museumswelt kennt Fundteilungen aus Naturkundemuseen und archäologischen Grabungen. Aber auch ethnologische Sammlungen wurden aufgeteilt, wenn Sammler für mehrere Auftraggeber von verschiedenen Institutionen unterwegs waren oder wenn sie sowohl naturkundliche als auch ethnologische Gegenstände erwarben. In allen diesen Fällen bestand die Gefahr, dass die Begleitdokumentation nicht dupliziert wurde, d.h. nur bei einem Teil der Sammlung verblieb und somit der Kontext der Objekte verloren ging.

Museumsethnologen ist daher das Prinzip der „geschlossenen Sammlung“ heilig. Man behalf sich bei Abgabe der Originale zuweilen mit der Anfertigung von Gipsen. Die Abgabe von Originalen als sogenannte Doubletten ist besonders problematisch, denn die dazugehörige Korrespondenz ist unvollständig dokumentiert. Von ausgehenden handschriftlichen Schreiben wurden schlicht keine Kopien angefertigt. Hierzu muss heute in den Archiven der empfangenden Institutionen recherchiert werden. Besonders schwierig, wenn nicht unmöglich ist die Recherche bei Erwerbungen einzelner Objekte aus dem Kunsthandel.

Die Sammlungen ethnologischer Museen spiegeln überdies eine maskuline Welt. Sammler und Forscher waren fast ausschließlich Männer. Auf Expeditionen „im Feld“ war ihnen der Kontakt zu Frauen untersagt, ja er konnte sogar lebensgefährlich sein. Ethnologische Museen sind wahre Waffenarsenale: Sie beherbergen Hunderte von Speeren, Lanzen, Harpunen, allerdings keineswegs Massenware, denn jedes Exemplar ist anders. Wenn die Sammler doch an „weibliche“ Utensilien gelangten, ließen sie sich schon einmal unbrauchbares Geschirr andrehen. Einige tibetische Kessel und Kannen der berühmten Gebrüder Schlagintweit sind Fehlgüsse und funktionsuntüchtig. Sie wurden bei den Schlagintweits wohl gegen gute Bezahlung entsorgt. Sammlungsforschung ist eben auch „Fake-Forschung“.

Erst postkolonialer Diskurs und postmoderne Dekonstruktion leiteten einen kritischen Prozess ein, der die westliche Deutungshoheit infrage stellte sowie Unrecht bei Erwerbungen thematisierte

Ausbeutung, Elend, Not und widerrechtliche Aneignung unter ungleichen Verhältnissen kennzeichnen die europäische Expansionsgeschichte auf allen Kontinenten. Die Sammlungen des 18. bis 20. Jahrhunderts spiegeln diese Geschichte plastisch. Die Expeditionen beruhten auf der Annahme, im Besitz der Deutungshoheit der Welt zu sein. Jedes Mittel für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn schien recht zu sein, zuweilen jenseits ethischer Normen. Die Sammlungen inklusive menschlicher Überreste dienten dabei der Veranschaulichung. Später, im 20. Jahrhundert, eigneten sich die Künstler der westlichen Moderne ästhetische Konzepte der „Exoten“ in Afrika, Ozeanien, Asien und dem indigenen Amerika an, erklärten sie zur Kunst und verschwiegen die Urheberschaft.

Erst postkolonialer Diskurs und postmoderne Dekonstruktion leiteten einen kritischen Prozess ein, der die westliche Deutungshoheit infrage stellte sowie Unrecht bei Erwerbungen thematisierte. Zuweilen führt die Einbindung der Erforschung der indigenen Teilhabe der Sammlungen zu unerwarteten Erkenntnissen: Vor dem Hintergrund des Wettbewerbs um die besten und größten Sammlungen für die boomenden Museumsgründungen in Europa und Nordamerika fanden sich Profitgier und Trittbrettfahrer bei ungleichen Rahmenbedingungen auf beiden Seiten. Europäische Sammler waren dabei auf einheimische Mittler und Agenten angewiesen, die das Geschäft erst ermöglichten. Belegt sind Geschichten von indigenen „Verrätern“, die zu Gräbern führten, beim Öffnen halfen und nachts Ritualgegenstände und andere kulturell wichtige Gegenstände besorgten. Ein lebensgefährlicher Job, denn kam das Delikt heraus, wurde in der community kurzer Prozess gemacht – zur Abschreckung für Nachahmer.

Die Offenlegung auch dieser illegalen Deals und ihrer Konsequenzen ist wichtig für die Nachkommen der Herkunftsgesellschaften von heute, denn sie differenzieren einseitige Opfer-Täter-Betrachtungen etwa hinsichtlich des Aspekts von „Komplizenschaft“ mit europäischen Sammlern.

”Fieldwork turned on its head”

Eine besonders effektive Methode der Sammlungsforschung wurde von einer Yupik-Delegation aus Alaska Ende der Neunzigerjahre einmal als „Fieldwork turned on its head“ bezeichnet. Immer häufiger erhalten ethnologische Museen in Europa Besuch von den Nachkommen der Herkunftsgesellschaften. Angehörige der Dena’ina und Chugach Corperation ebenfalls aus Alaska, Huicholes aus Mexiko oder Jakuten aus Sibirien organisieren und investieren selbst in diese kostspieligen Recherchereisen. Das gemeinsame Betrachten und die Diskussion über die Sammlungen sind so aufregend wie aufschlussreich und bringt neue Erkenntnisse für beide Seiten. Dabei kommt den historischen Fotosammlungen eine immense Bedeutung zu. Sie erlauben die Identifizierung von Personen, darunter mitunter sogar die der Künstler, welche die Werke geschaffen haben und in den communities noch namentlich bekannt sind.

Die Zukunft liegt auch in der Digitalisierung

Bei der Provenienzforschung kann es aber nicht um die Frage Masse versus Klasse gehen, d.h. möglichst viele Objekte mit bekannter Sekundärprovenienz gegen wenige sehr gut durchgeforschte Objekte. Vielmehr müssen parallel dazu die Digitalisierung und die Onlinepublikation aller Basisdaten im Fokus stehen: Inventarisierungsnummer, Objektbeschreibung, Sammler, Erwerbsort und -datum, vor allem Fotos, Zeichnungen und historisches Audio- bzw. Filmmaterial.

Je mehr Menschen Zugang zu diesen Daten erhalten, desto größter ist die Chance, Objekte auf ihre Provenienz, ihren Ursprungskontext und die Funktion in den Herkunftsgesellschaften hin erforschen zu können. Man wird viel Geld für Übersetzungen deutscher Begleitquellen in die Hand nehmen müssen, für Transkriptionen aus dem Sütterlin oder ausgestorbenen Kurzschriften wie Stolze-Schrey, die den Nachfahren der Herkunftsgesellschaften ebenso fremd sind wie deutschen Wissenschaftlern von heute.

Erst wenn alle Seiten Zugang zu diesen Daten haben, wird man eine globale digitale Plattform des sharing knowledge aufbauen und betreiben können. Das Ziel ist eine vernetzte Sammlungsforschung, eine Versachlichung unabhängig vom Zeitgeist politischer und wissenschaftstheoretischer Forderungen und einseitiger Fokussierungen auf einen bestimmten Zeitpunkt der Objektbiografie. Ethnologische Museen betreiben beides sehr aktiv, sie digitalisieren und sie erforschen ihre riesigen Sammlungen und sie erweitern dabei ständig ihre weltweiten Netzwerke.

Der Gastbeitrag von Viola König erschien zuerst in der "Welt"


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