Des Glückes Unterpfand?

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Vor 175 Jahren schrieb Hoffmann von Fallersleben das „Lied der Deutschen“. Aber singen wir da eigentlich noch, was wir fühlen? Wir haben drei „neue“ Deutschlandlieder in Auftrag gegeben.

Zu den größten Schätzen des nationalen und weltweiten schriftlichen Kulturerbes, das die Staatsbibliothek zu Berlin bewahrt und für Forschung und Kultur bereitstellt, zählt fraglos die eigenhändige Niederschrift des „Liedes der Deutschen“. Im Jahr 1903 erwarb die damalige Königliche Bibliothek den Nachlass von Hoffmann von Fallersleben. Damals ahnte kaum jemand, dass das Gedicht – in Kombination mit seiner Vertonung durch Joseph Haydn – knapp zwanzig Jahre später, 1922 erstmals zur deutschen Nationalhymne ernannt werden würde.

Wie so häufig in der lyrischen Produktion von Dichtern handelt es sich nicht um die  einzige Niederschrift, die Hoffmann von Fallersleben anfertigte. Und doch: Allein schon aufgrund ihres Aufbewahrungsortes in der ehemals geteilten Bibliothek einer ehemals geteilten Stadt kommt der Handschrift der Staatsbibliothek eine besondere Bedeutung hinsichtlich ihrer Kernaussage zu – des Bekenntnisses zu Einigkeit, zu Recht und zu Freiheit.

Lied der Deutschen digital

Die Staatsbibliothek zu Berlin hat die Niederschrift der deutschen Nationalhymne von Hoffmann von Fallersleben digitalisiert. Sie ist über die Website der Staatsbibliothek  aufrufbar:

„Lied der Deutschen“ online anschauen

Vor nunmehr 175 Jahren, im August 1841, entstand das „Lied der Deutschen“ auf Helgoland. Hoffmann von Fallersleben war als Revolutionär aus den deutschen Staaten auf die damals noch englische Insel geflohen. Seine Gedanken wanderten zurück aufs Festland. So schreibt er in seinen Lebenserinnerungen über die Zeit auf Helgoland: „Wenn ich dann so wandelte einsam auf der Klippe, nichts als Meer und Himmel um mich sah, da ward mir so eigen zu Muthe, ich mußte dichten und wenn ich es auch nicht gewollt hätte. So entstand am 26. August das Lied: ‚Deutschland, Deutschland über Alles!‘“

Das „Lied der Deutschen“, gesungen nach der Melodie von Haydns „Kaiserlied“, schlug mit dieser melodischen Entleihung eine Brücke zum Alten Reich – im Mittelpunkt stand aber nicht mehr der Monarch, sondern die deutsche Nation. Obwohl von anderen Nationen wegen der Zeile „über alles in der Welt“ kritisiert und im Ersten Weltkrieg propagandistisch vereinnahmt, erklärte Reichspräsident Friedrich Ebert das Deutschlandlied zur Nationalhymne der Weimarer Republik. Im Dritten Reich sang man nur noch die erste Strophe, gefolgt vom Horst-Wessel-Lied.

Konrad Adenauer löste nach Kriegsende einen Eklat aus, als er bei seinem ersten Besuch als Bundeskanzler in Berlin die dritte Strophe singen ließ – trotzdem machte  Bundespräsident Theodor Heuss sie wenig später zur Nationalhymne. London und Paris waren empört, man wertete die Hymne als das Fortbestehen einer nationalistischen Gesinnung. In der DDR sang man derweil die von Johannes R. Becher getextete und von Hanns Eisler vertonte „Friedenshymne“ „Auferstanden aus Ruinen“.

Heute weiß fast niemand mehr von Hoffmanns Wunsch, aus den zahlreichen deutschen Einzelstaaten einen Einheitsstaat entstehen zu lassen, verbunden durch gemeinsame Sprache und Werte. Einigkeit und Recht und Freiheit, sind das denn überhaupt die Werte, die unser Land heute ausmachen – oder gibt es noch andere?

Niederschrift des "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben
Niederschrift des "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben © bpk/ Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz
Tanja Dückers
© Susanne Schleyer / autorenarchiv.de
Marcia Bodrožic
© Peter von Felbert
Jan Koneffke
© Johannes Kaupert

TANJA DÜCKERS

Als überzeugte Europäerin war mir wichtig, den Gedanken an die Überwindung von jahrhundertelangen erbitterten Kriegen in Europa hervorzuheben sowie auch das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges, die Europa einst zerriss. Außerdem  wollte ich kein „Deutschlandlied“ schreiben, das dem alten begrenzenden narzisstischen Nationalismus huldigt – Nationalitäten sind ohnehin konstruiert, eine Fiktion. Ich stelle mir ein transnationales Europa vor, in dem keineswegs die einzelnen Länder chancenlos untergehen. Deutschland sehe ich in einem solchen Europa mit und neben anderen Ländern stehen – wie Brecht schon schrieb, „und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein“.

Tanja Dückers wurde geboren 1968 in West-Berlin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Tanja Dückers

Muttersprachland

Mehrfarbigkeit, Überklanglichkeit &
Herzschiffe für das Deutsche Muttersprachland.
Die offenen Grenzen, vielgestaltig – angstfrei
wachsen zur Freiheit, zur Helligkeit,
sind Befähigung zur Andersheit.

Deutsche Worte, deutsche Welt ist nie ein Singular.
Fremd ist die Welt auch im Eigenen.
Nur so wird sie Erzählerin von Klarheit,
verbündet im Geheimniszustand. Gott ist nicht gestorben,
damit wir nur einen Pass besitzen und das Alphabet verraten.

Herz und Hand vereinen sich, im Muttersprachenland
wird alles Welt und sagbar: es gibt ja keine deutschen Vögel.
Alles gehört der Sprache, unverkäuflich ist sie, eine Landschaft:
Auch jenseits der Worte ist die Freiheit kein Bootsverleih.

Einigkeit und Recht und Freiheit
spielen sich im Leben aller Menschen ab.
Der Horizont blüht im ganzen Alphabet,
wer pflücken kann: der staune
auch jedes einzelne Komma an.

Muttersprachenland, lass dich nicht pflegen,
weite dich mit jedem neuen Wort,
mit jeder fremden Seelenlandschaft.
Denn dich kann man nicht kaufen,
dich kann man nur bewohnen
und frei sein in deinem unvergänglichen Klang.

Marica Bodrožic

MARICA BODROŽIC

„Für mich ist entscheidend, dass das heutige Deutschland ein Land ist, in dem jeder Bürger ein eigenes Lied haben kann und darf – egal, welche Sprache für ihn seine Muttersprache ist. Diese polyfone Vielfalt schafft die Vision für ein neues, angstfreies Denken, das ich mit innerer Schönheit verbinde. Auch wenn unsere heutige Gesellschaft vielen Reibungen ausgesetzt ist, glaube ich dennoch an diese untergründig arbeitende Form der Ästhetik – und ich vertraue ihr, da ich sie seit über dreißig Jahren in diesem Land erlebe.“

Marica Bodrožic wurde 1973 geboren in Zadvarje/Dalmatien. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Marica Bodrožić

Neues Lied auf alte Weise

Deutschland, Deutschland: Kaufhausketten
Hochhaussiedlungen am Rand
Wachstumsraten Warenpaletten
Daimler Dax und Dosenpfand
Plastikbeutel – Hackbuletten –
Bier – und Bolle – Vaterland
Deutschland Deutschland: Kaufhausketten
Hochhaussiedlungen am Rand

deutsche Hybris deutsche Reue
Effizienz und Hysterie
Zwischen Loire und Donau neue
Vormacht: Made in Germany
deutsche Einigkeit und treue:
Unternehmensharmonie
deutsche Hybris deutsche Reue
Effizienz und Hysterie

Recht das gilt und Geld das Recht hat
freier Monetary Flow
Achtung Grenze wer es schlecht hat!
Fluchtasyl brennt lichterloh
Mutterland das wieder Pech hat
deine Lover: hohl wie roh
Recht das gilt und Geld das Recht hat
freier Monetary Flow

Jan Koneffke

JAN KONEFFKE

„Neuerdings wird auf Demonstrationen der Spruch skandiert: ‚Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen‘. Dabei sind es die selbst ernannten Liebhaber Deutschlands, die mit ihrer Intoleranz und Kälte, ihrem Egoismus und blindem Hass gegen alles, was anders ist, dem Land, seinen Bewohnern und sich selbst den größten Schaden zufügen. Der Nationalismus wird zum Leichengräber der Heimat. Die Geschichte lehrt es. Von Fallersleben konnte das zu seiner Zeit nicht wissen. Sein ‚Lied der Deutschen‘ verdient eine heutige Antwort: Bestandsaufnahme gegen nationale Schwärmerei. Ansonsten gilt der Satz eines bedeutenden Bundespräsidenten: ‚Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau‘.“

Jan Koneffke wurde 1960 in Darmstadt geboren. Er lebt und arbeitet in Wien, Bukarest und dem Karpartenort Măneciu.

Die Staatsbibliothek zu Berlin erinnerte 2016 an das 175. Jubiläums der Entstehung des „Lieds der Deutschen“ und stellte das Autograf am 26. und 27. August in ihrem Haus an der Potsdamer Straße 33 öffentlich aus. Zugleich erschien ein Faksimile des Blattes. Ebenfalls zu sehen waren die neu geschriebenen Lieder unserer Autoren. Ihre Handschriften sind außerdem im SPK-Magazin Ausgabe 1/2016 im Original abgedruckt.