Kontroverses Kulturgut – das Netzwerk Cellulosenitrat

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Der Kunststoff Cellulosenitrat wurde über einen langen Zeitraum als Bildträger eingesetzt. Archive, Museen und andere Kulturerbe-Institutionen stehen nun vor der Aufgabe, sich zugleich mit dessen Erhaltung und einer schwierig zu erschließenden Rechtslage auseinandersetzen zu müssen. Das Netzwerk Cellulosenitrat bringt dafür verschiedene Akteure aus unterschiedlichen Institutionen zusammen, um Wissen zu bündeln und lösungsorientierte Diskussionen anzustoßen.

Sowohl in der Fotografie als auch in der Kinematografie wurde Cellulosenitrat für flexible Bildträger verwendet. Zwischen Ende der 1880er Jahre und dem offiziellen Produktionsende in den 1950er Jahren (spätere Verwendungen müssen stets in Erwägung gezogen werden) wurde es umfangreich und für diverse Foto- und Kinefilmformate eingesetzt. Daher befinden sich in entsprechenden Sammlungen mitunter große, historisch wertvolle Konvolute auf diesem sensiblen Träger. Er ist leicht entzündlich und brennt mit intensiver Flamme ab. Hinzu kommt, dass sich ein entfachtes Feuer nicht löschen lässt und giftige bzw. lebensgefährliche Gase freigesetzt werden. Aufgrund der stofflichen Rahmenzusammensetzung wird Cellulosenitrat als „sonstiger explosionsgefährlicher Stoff“ im Sinne des Sprengstoffgesetzes SprengG verstanden.  Auflagen zur Lagerung, Handhabung sowie zum Transport werden in diversen Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien definiert.

Die existierenden Gesetze, Richtlinien und Verordnungen erfordern jedoch eine sichere Auslegung sowie umfangreiche Kenntnisse der gegebenen baulichen Beschaffenheiten des Lagerortes. Institutionen sind bei der klärenden Informationssuche sich selbst überlassen. Zudem sind zuständige Stellen bzw. Ämter ebenfalls häufig ungeübt im Umgang mit dieser speziellen Thematik. Dies führt in den betroffenen Sammlungen häufig zu Verunsicherung und Handlungsunfähigkeit, mitunter gar zur Kassation von bedeutendem, einzigartigem Kulturgut.


Die Arbeit mit fotografischen und kinematografischen Materialien auf Cellulosenitrat-Basis erfolgt demnach stets innerhalb eines heiklen Spannungsfeldes: Archive, Museen und andere Kulturerbe-Institutionen bewegen sich zwischen dem Erhaltungsauftrag für das ihnen anvertraute Kulturgut und einer komplexen, schwierig zu erschließenden Rechtslage.

Die bpk-Bildagentur

Die bpk-Bildagentur mit ihrem Bildarchiv gehört zur Staatsbibliothek zu Berlin, einer Einrichtung der SPK. In ihrem Bestand befinden sich über 12 Millionen Fotografien aus Vor- und Nachlässen bedeutender Fotograf*innen sowie Verlagen. Sie verfügt damit über eines der umfangreichsten und bedeutendsten zeitgeschichtlichen Fotoarchive in Europa. Ihre Aufgabe besteht darin, wertvolles Kulturgut langfristig zu bewahren, inhaltlich zu erschließen und in Auswahl digital verfügbar zu machen.

Aufgrund dieser Situation entstand im Frühjar 2020 die Idee, verschiedene Akteure aus unterschiedlichen Institutionen zusammenzubringen, das vorhandene Wissen zu bündeln und lösungsorientierte Diskussionen anzustoßen. Das in privater Initiative gegründete und finanzierte Netzwerk Cellulosenitrat versteht sich als Interessengruppe, die sich mit dem verantwortungsbewussten Umgang mit fotografischen und kinematografischen Materialien auf Cellulosenitrat-Basis beschäftigt. Neben den Mandaten durch die Institutionen der einzelnen Mitwirkenden, agiert das Netzwerk institutionsunabhängig. Auch wenn es sich zunächst auf die Bereiche Fotografie und Kinematografie fokussiert, will es zudem offen bleiben für alle anderen Sammlungsmaterialien auf Cellulosenitrat-Basis.

Das Lenkungsteam setzt sich aus Personen diverser Fachrichtungen und Expertisen zusammen, die sich bereits in unterschiedlichen Kontexten mit der Thematik auseinandersetzen und sich durch das Netzwerk zielgerichtet den Themen rund um Cellulosenitrat als Sammlungsgut widmen wollen.

Zu diesem Zweck will das Netzwerk Cellulosenitrat eine fundierte und zugängliche Wissensbasis schaffen, um Handlungssicherheit im Umgang mit diesem Material zu gewährleisten. Darüber hinaus will es sich den rechtlichen Unklarheiten widmen und dafür einsetzen, die Rechtssituation nachvollziehbar und praxisorientiert zu gestalten.

Dazu hat sich das Netzwerk folgende Ziele gesetzt:

  • Austausch über historische Hintergründe, den aktuellen Stand wie auch geplante Entwicklungen zum Thema Cellulosenitrat
  • Sammlung und Bereitstellung verfügbarer Informationen und wissenschaftlicher Grundlagen
  • Diskussion der Rechtsauffassungen und Interpretationsmöglichkeiten bezüglich des Umgangs mit sowie der Lagerung von Materialien aus Cellulosenitrat
  • Formulierung von Handlungshilfen rund um das Thema
  • Etablierung von Anlauf- bzw. Informationsstellen für die oben genannten Fragen/Problemstellungen
  • Mitwirkung an Entwicklungen von Handreichungen und Normen
  • Initiierung und Teilnahme an neuen Forschungen und Untersuchungen
Negativ eines Films
Cellulosenitrat Stummfilm (Fragment des Spielfilms "Sterbende Romantik" von Anton Kutter 1927), Landesfilmsammlung BW / Anna Leippe
Schachtel mit gerollten historischen Filmrollen
Schachtel mit gerollten Cellulosenitrat Kleinbildfilmen, Sammlung bpk-Bildarchiv / Antonia Teweleit
Negativ eines Fotos, auf dem ein Mann am Reck turnt
Cellulosenitrat Tonfilm (Stuttgarter Turnfest, 1933), Landesfilmsammlung BW / Anna Leippe

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass das Netzwerk aufgrund der beschriebenen komplexen Rechtslage keine rechtsverbindliche Beratung anbieten kann. Gleichwohl sollen die auf der Webseite bereitgestellten Informationen und Handreichungen die notwendige Wissensbasis schaffen und als Hilfe zur Selbsthilfe dienen.

Den ersten Themenschwerpunkt der Webseite bilden die rechtlichen Aspekte zur Aufbewahrung und zur Beförderung von Cellulosenitrat-Materialien, sowie die unterschiedlichen Zuständigkeiten in den einzelnen Bundesländern.  Weitere Informationen z. B. zu den Möglichkeiten der Identifikation und zu den klimatischen Bedingungen bei der Aufbewahrung des Materials sind in Arbeit. Insgesamt wird das Informationsangebot der Webseite stetig verbessert und sukzessive erweitert.


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