Gruppenfoto vor einem Gebäude

Der Vergessenheit entrissen

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Tausende Schädel und Gebeine aus Ruanda, Tansania und Kenia liegen in Berliner Depots. Zusammen mit Wissenschaftler*innen aus den Herkunftsländern wurden sie nun genau untersucht – um eine Rückgabe möglich zu machen

Marius Kowalak, Ethnologe am Museum für Vor- und Frühgeschichte, war in den vergangenen Jahren mit einem Team Berliner Wissenschaftler*innen immer wieder in Ruanda. Er führte Gespräche in Ministerien, nahm an Workshops teil und reiste durchs Land, war an den Orten, aus denen die Schädel und Skelette stammen, die menschlichen Überreste, die seit der Kolonialzeit in so großer Zahl in Berlin lagern. „Oft wussten die Menschen dort gar nicht, dass die Gebeine ihrer Vorfahren in Berlin in einem Museum sind“, sagt Kowalak.

Begeistert spricht er von den ruandischen Kolleg*innen, von den offenen, oft sehr emotionalen Diskussionen mit ihnen, von den Student*innen, die Kontakte in die einzelnen Dörfer hatten, die halfen, die Fundorte von einst zu identifizieren, das neue Wissen zu verschriftlichen und die vorhandenen Quellen zu ergänzen, die Original-Beschriftungen auf den Schädeln, die alten Listen und Reiseberichte. „Wir haben vor Ort gesehen, wie wichtig unsere Arbeit ist. Das war sehr berührend“, sagt Kowalak. Denn darum gehe es: um den Dialog, um die Zusammenarbeit mit den Communities. „Nur so können wir erfahren, woher genau die Schädel kommen. Und was sich die Menschen vor Ort wünschen. Das kann die Rückgabe sein. Aber vielleicht auch ein Denkmal.“

Es ist eine lange, grausame Geschichte, und höchste Zeit, sie auch wissenschaftlich aufzuarbeiten, Verantwortung zu übernehmen: 7865 menschliche Überreste gibt es in den Depots des Museums für Vor- und Frühgeschichte. 1258 haben Kowalak und der Archäologe Bernhard Heeb zusammen mit ihren Kolleg*innen aus Deutschland und Ruanda jetzt in einem Pilotprojekt untersucht, großzügig gefördert von der Gerda Henkel Stiftung. 921 davon stammen aus Ruanda, die übrigen aus Kenia und Tansania.

Die Forscher*innen wollten wissen: Warum genau wurden all diese Schädel und Skelette überhaupt gesammelt und dann nach Deutschland gebracht? Wie wurden sie gefunden, ausgesucht, in Besitz genommen? Vor allem: Geschah das mit Gewalt? Was für Folgen hatte das schließlich für die Menschen in Ruanda, für die Verwandten der Verstorbenen? Und später, in Deutschland, was geschah dann mit den Gebeinen, über all die Jahrzehnte, bis heute?

Die Antworten darauf haben sie in einer umfangreichen Publikation zusammengefasst, die seit Ende September vorliegt. Auch deshalb ist das Projekt so einmalig, weil es die Forschung in den ruandischen Communities mit einbezieht, auch mündliche Überlieferungen. Das ist eine wichtige Erkenntnis: dass es auch vor Ort noch Wissen über die deutsche Kolonialherrschaft gibt, Wissen darüber, was damals wo genau geschah. Wohl aus keinem Land wurden mehr menschliche Überreste entwendet als aus Ruanda, einem Teil der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, und das in nur einem Jahr: 1907.

Meistens, so stellten die Forscher*innen fest, wurden die Gebeine aus großen Bestattungshöhlen entwendet, die in Ruanda zahlreich waren. Doch kam es auch vor, dass Ärzte die Besatzer auf soeben Verstorbene hinwiesen – was den damaligen Sammlern in Berlin besonders recht war, weil sie so die genaue Identität und ethnische Zugehörigkeit des Verstorbenen erfuhren. Manchmal aber nutzten die deutschen Kolonialherren auch ihre Kontakte zu einheimischen Herrschern, etwa dem bekannten König Yuhi Musinga III. – um an die menschlichen Überreste möglicherweise hingerichteter Feinde zu gelangen.

Schwarz-weiß Porträt eines Mannes
Portraitaufnahme von Felix von Luschan © Ethnologisches Museum / Staatliche Museen zu Berlin
Menschen sitzen an einem Konferenztisch in einem Zelt, ein Mann spricht
Archäologe Bernhard Heeb (Bildmitte) bei einer Diskussionsrunde in Ruanda. Foto: Kassandra Rexin
Buchcover
Die neu erschienene Publikation: "Human Remains from the Former German Colony of East Africa. Recontextualization and Approaches for Restitution". © SMB / Böhlau Verlag
Menschen sitzen an einem Konferenztisch in einem Zelt, ein Mann spricht, hinter ihm eine Leinwand
Diskussionsrunde in Ruanda. Foto: National Museums of Rwanda

Felix von Luschan

Felix Ritter von Luschan (* 11.8.1854 Hollabrunn bei Wien; † 1924 in Berlin) war zunächst als Arzt tätig. 1882 habilitierte er sich in Wien im Fach Anthropologie, 1888 erneut in Berlin. 1885 berief Adolf Bastian ihn als Direktorialassistent an das Berliner Völkerkundemuseum, wo er für die Afrikanisch-Ozeanische Abteilung zuständig war. Sein eigentliches Fachgebiet wurde jedoch Afrika, wo er zwar keine eigenen Feldforschungen durchführte, aber eine äußerst rege Erwerbs, Forschungs- und Publikationstätigkeit entwickelt. Für das Museum erwarb er unter anderem Benin-Objekte und engagierte sich für das Phonogramm-Archiv. 1909 wurde er zum Professor für Anthropologie an der Berliner Universität ernannt.

Charles Mulinda Kabwete, Professor an der Universität in Kigali, beschreibt in einem Beitrag der Publikation ausführlich das System von Verwaltern, Militärs und Missionaren, das den deutschen Wissenschaftlern damals dabei half, sich die vielen Schädel und Skelette zu beschaffen. „Diejenigen, die meinen, der Kolonialismus habe nur Leid über die Lebenden gebracht, irrt. Auch die Toten wurden nicht ausgespart“, schreibt Charles Mulinda Kabwete, der das nun abgeschlossene Projekt mit seinem Team entscheidend geprägt hat. „Es ist traurig, dass mehr als hundert Jahre vergehen mussten, bis es zu dieser Forschung kommen konnte.“

Dabei trug das Sammeln und Vermessen dazu bei, die Kolonien und ihre Menschen besser zu beherrschen, das Land wirtschaftlich auszubeuten. Und es hatte Methode. Der Archäologe Bernhard Heeb vom Museum für Vor- und Frühgeschichte beschreibt in seinem Beitrag ausführlich die verschiedenen Sammlungen: die sogenannte Rassenschädelsammlung der Charité, dann die Rudolf-Virchow-Sammlung, und vor allem: die S-Sammlung, die große Schädel-Sammlung des Mediziners und Anthropologen Felix von Luschan, des damaligen Direktors des Museums für Völkerkunde.

Heeb beschreibt, wie diese Sammlungen entstanden, was die Berliner Ethnologen und Mediziner mit ihnen genau bezweckten, wie sie zusammengeführt wurden – und wie sie dann über die Jahre von einem Berliner Depot ins andere wanderten. „Die S-Sammlung und die Rudolf-Virchow-Sammlung waren die Produkte ihrer beiden Sammler, nämlich Felix von Luschans und Rudolf Virchows. Mit deren Tod gerieten sie in Vergessenheit – und wurden geradezu lästig“, sagt Heeb.

Erst vor einigen Jahren, mit der Provenienzforschung, entwickelte sich ein neues Bewusstsein dafür, würdevoll und angemessen mit diesen menschlichen Überresten umzugehen, sie sorgsam zu verwahren. DNA-Analysen wurden möglich, neue technische Untersuchungsmethoden entstanden, und es wuchs auch das Interesse, historische Krankheiten anhand der Gebeine zu erforschen. Vor allem aber wurde der Wunsch nach Rückgabe laut.

Denn das war das wichtigste Ziel des nun abgeschlossenen Projekts: die Schädel aus Ruanda, Kenia und Tansania soweit zu erforschen, dass eine Rückgabe möglich wird, dass klar wird, wohin welche Gebeine zurückgebracht werden können. Dazu dient auch der umfangreiche Katalog, der fast die Hälfte der nun vorliegenden Publikation ausmacht, und der alle 1258 Gebeine genau beschreibt: aus welchem Kontext der jeweilige Schädel stammt, wer genau ihn gesammelt hat, ob er der Schädel einer Frau oder eines Mannes, eines älteren oder jüngeren Menschen war. „Die Publikation ist auch ein Nachschlagewerk“, sagt Marius Kowalak. „So können sich die Interessierten in den ruandischen Communities auf die Suche nach ihren Vorfahren machen.“ Bald werden die Daten online zugänglich sein.

Der Anfang ist also gemacht. So wie schon nach Namibia, Australien und Hawaii können menschliche Überreste bald auch nach Ruanda, Kenia und Tansania zurückkehren. So wird es weitergehen: ein Projekt zu West-Afrika konnte gerade starten – auch von dort gibt es zahlreiche menschliche Überreste in den Berliner Depots. Später könnten Gebeine aus den früheren Kolonien im Pazifik folgen, aus Samoa und Papua-Neuguinea.


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