Das Stundenbuch der Herzogin: Rettung mittelalterlicher Buchkunst

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Eine der schönsten Handschriften der Staatsbibliothek zu Berlin ist das Stundenbuch der Maria von Geldern. Die reich verzierte mittelalterliche Handschrift wurde seit 2015 in einem großen Forschungsprojekt der Staatsbibliothek, des Rathgen-Forschungslabors und der niederländischen Radboud Universität umfassend untersucht und restauriert.

Wenn eine Herzogin im 15. Jahrhundert etwas bestellte, dann wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das erlesenste Produkt zu garantieren. Kein Wunder also, dass das Stundenbuch der Herzogin Maria von Geldern zu den schönsten mittelalterlichen Handschriften zählt, die die Staatsbibliothek zu Berlin besitzt. Bis 1415 arbeitete der Mönch und Schreiber Helmich de Lewe im Augustinerkloster Marienborn bei Arnheim an dem Band. Mindestens fünf Künstler unterstützten ihn und schufen zahlreiche farbenfrohen Minitaturen und Drolerien, die die 482 Pergamentblätter des Buches zieren. Das vollendete Werk ist ein prachtvoller Band: 92 Miniaturen von hervorragender künstlerischer Qualität sowie zahlreiche historisierte Initialen und gemalte Bordüren zieren die Texte. Das Buch enthält personalisierte Gebete und Verse, die zum Teil exklusiv für die Herzogin in ostmittelniederländisch verfasst wurden. Das Gebetbuch der Maria von Geldern gilt bis heute als Paradestück der niederländischen Buchkunst des Mittelalters.

Detail aus einer Miniatur mit dünner Schrift über zwei abgebildeten Köpfen

Erkennbare Schrift unter der blauen Malschicht: „paus “ (links) und „coninc ” (rechts). Es handelt sich, um eine Malanweisung für die Miniaturmaler, die an dieser Stelle einen Papst auf der linken Seite und einen König auf der rechten Seite, jeweils mit einem Schwert, zeichnen sollten © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Doch leider befindet sich das Werk mit seinem inzwischen stolzen Alter von 600 Jahren in einen bedauernswerten Zustand. Risse im Pergament, abgeriebene und abgeplatzte Malschichten, Goldabrieb, Craquelé-Bildung und pudernde Malschichten machten das herzogliche Gebetbuch so fragil, dass seit Anfang der 1990er Jahre keine Benutzung mehr möglich war. Die Schäden an den Malschichten beruhen zum größten Teil auf einer Kombination aus Alterung der verwendeten Materialien und der Einflüsse von sehr unterschiedlichen klimatischen Lagerungsbedingungen. Die Schäden im Pergament sind sehr wahrscheinlich auf die mechanischen Belastungen durch verschiedene Bindungen der Handschrift in Verbindung mit Klimaschwankungen zurückzuführen.

2015 begannen Wissenschaftler*innen der Staatsbibliothek zu Berlin, des Rathgen-Forschungslabors der Staatlichen Museen zu Berlin und der Radboud-Universität Nimwegen, im interdisziplinären Forschungsprojekt „Das Gebetbuch der Maria von Geldern (Ms. germ. qu. 42) in materialwissenschaftlicher und kodikologischer Perspektive“ die Rätsel des Stundenbuches zu lösen. Ebenfalls beteiligt an diesem von der Ernst von Siemens Kunststiftung geförderten Vorhaben waren das Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energien, das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung sowie das Museum Het Valkhof in Nijmegen, wo einzelne, bereits restaurierte Seiten des Gebetbuchs im Rahmen der Ausstellung „Ich, Maria von Geldern“ dem Publikum präsentiert wurden. Das Gebetbuch wird derweil immer noch bearbeitet, die Festigung der Malschichten auf fast 500 Seiten ist eine sehr zeitaufwändige Arbeit.

Seite der illuminierten Handschrift mit der Abbildung einer Frau
Darstellung Maria von Geldern aus der illuminierten Handschrift S. 19 © Staatsbibliothek zu Berlin, M. Hundertmark
Seite einer bunt illuminierter Handschrift
Die Umwandlung von Saint Paul (Miniatur) – Vorderseite des Blattes 161 mit farbigem Zierrahmen, Blatt-Ornament und Drolerie © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Das interdisziplinäre Team aus Kunsthistoriker*innen, Philolog*innen, Restaurator*innen und Naturwissenschaftler*innen analysierte die Beschädigungen und entwickelte ein Konzept zur dauerhaften Konservierung des wertvollen Buches, parallel dazu wurden auch kunstgeschichtliche Fragestellungen untersucht. So konnte eine kunsthistorische Analyse mindestens fünf verschiedene Künstler nachweisen, die an dem Buch gearbeitet hatten. Als Unterscheidungsmerkmale dienen vor allem die Größe und Feinheit der Malereien: Während bei einigen Figuren die Gesichter und Details wie die Haare sehr fein ausgearbeitet sind, sind sie bei anderen eher grob gehalten.

Mit zerstörungsfreien Analysenmethoden wie der Röntgenfluoreszenz oder der Raman- und Vis-Spektroskopie konnten die Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Johan Oosterman (Universität Radboud), Everardus Overgaauw (Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek) und Ina Reiche (Rathgen-Forschungslabor) außerdem wichtige kunsttechnologische Erkenntnisse gewinnen. So konnten bereits einige der verwendeten Pigmente identifiziert und bisher unter der Farbschicht verborgene Unterzeichnungen und Notizen sichtbar gemacht werden, die während der Fertigung des Buches entstanden sind.

Ein zentraler Bestandteil der Untersuchungen war der Erhaltungszustand des Buches: Warum und wie entstanden die – eigentlich untypischen – Risse im Pergament und wie können sie restauriert werden?

Um herauszufinden, warum dieses besondere Schadensbild beim Stundenbuch der Maria von Geldern auftritt, mussten die Expert*innen zunächst erfassen, wo sich die Risse am häufigsten befinden. Anzahl, Lokalisierung und Länge der Risse wurden für jedes Blatt einzeln erfasst. Die Auswertung zeigt, dass die Anzahl der Risse nach etwa 60 Seiten deutlich steigt, außerdem befinden sich die Risse jeweils am Falz, im Bereich des Zierrahmens. Die Restaurator*innen haben auch wichtige Hinweise auf die Ursache der Risse gefunden: Diese liegen sehr wahrscheinlich einerseits in der mechanischen Belastung bei verschiedenen Pressvorgängen, die Teil der buchbinderischen Arbeit sind, und andererseits in den Spannungen durch die über Jahrhunderte vorhandene, starre Verklebung am Rücken. In Kombination mit dem Umblättern der Seiten im gebundenen Buch, bei dem im Falzbereich immer die größte Belastung liegt, entstanden so die Risse im Material.

Inzwischen haben die Restaurator*innen ein Konservierungskonzept erstellt, das helfen soll, den Zustand des Gebetbuches zu stabilisieren und weitere Schäden zu vermeiden. Nach der Konservierung der einzelnen Blätter werden diese lagenweise gebunden und in extra angefertigten Kassetten bei stabilen klimatischen Bedingungen und einer Luftfeuchte von 50 Prozent im Tresormagazin der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt. Da die Handschrift ungebunden bleibt, können jene Umstände vermieden werden, die zu den Schäden geführt haben, etwa die straffe Fixierung des Pergaments am Bund oder das Biegen der Seiten beim Blättern.

Das Projekt zur Erforschung des Gebetsbuchs der Maria von Geldern macht deutlich, dass es bei der Arbeit an und über Schriftstücken nicht nur um deren Inhalt, sondern auch um die Materialität der Quellen geht. Nicht nur aus restauratorischer Sicht spielt das Trägermedium von Schrift in seiner Beschaffenheit und seinem Erhaltungszustand eine wichtige Rolle – es hat auch Auswirkungen auf ihre Überlieferung und Rezeption. Das Forschungsprojekt zum Gebetsbuch, aber auch andere Projekte wie das ebenfalls spartenübergreifende DFG-Projekt „Manuscripta americana – Materialanalytische und kulturhistorische Untersuchungen von kolonialzeitlichen Handschriften aus Mexiko in Berlin und Krakau“ von Staatsbibliothek zu Berlin, Ibero-Amerikanischem Institut und Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung lassen sich dem Feld der textuellen Materialitätsforschung zuordnen. Dieses trans- und interdisziplinäre Forschungsfeld vernetzt die Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz untereinander wie auch mit externen Partnereinrichtungen. Programmatisches Ziel der im Gefolge des Material Turn der Geistes- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren rasant expandierenden textuellen Materialitätsforschung ist es, beschriftete Artefakte jenseits der Dichotomie von Trägersubstanz und semiotischer Ebene in ihrer Dinghaftigkeit in den Blick zu nehmen. Als öffentlichkeitswirksame Schnittstelle und Inkubator für neue Projektideen hat sich in diesem Zusammenhang die seit 2014 von der Staatsbibliothek zu Berlin in Verbindung mit Angehörigen des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ der Freien Universität, der Humboldt-Universität sowie der Universität Kopenhagen organisierte Vortragsreihe „Die Materialität von Schriftlichkeit – Bibliothek und Forschung im Dialog“ etabliert. Die Vorträge dieser Reihe finden derzeit pandemiebedingt an jedem dritten Dienstag im Monat online statt.


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