Des Glückes Unterpfand? Drei „neue“ Deutschlandlieder

News vom 19.07.2016

Anlässlich des 175. Geburtstages von Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ hat das SPK-Magazin drei zeitgenössische Schriftsteller um eine Aktualisierung aus eigener Sicht gebeten. Hier lesen Sie die Ergebnisse des Gedankenexperiments.

Tanja Dückers: Deutschland was bist Du vieles

Unser Land in Europas Mitte
nach Hunderte Jahre Leid und Krieg
nun im geeinten Kontinent
Teil Europas und doch Du selbst
Deutschland Land der Mitte
Sei in Frieden mit den Nachbarn
nah und fern

Deutschland was bist Du vieles und so
verschieden

Von der flachen Nordseeküste bis zu den hohen Alpengipfeln
Von den Wellen bis zum Schnee
Vom bewegten Rhein
bis zur traumverlorenen Oder
Von Berlins großen breiten Magistralen bis zum stillen grünen Kaiserstuhl

Deutschland was bist Du vieles und so
verschieden

Vom schnellen Auto bis zum klugen Stift
Vom kühnen Bild bis zur funkelnden Erfindung 
Vom alten Wein bis zu neuer Baukunst
Deutschland was bist Du vieles und so verschieden
wie auch Deine Menschen hier
Deutschland Land der Mitte
Sei in Frieden mit den Nachbarn
nah und fern

Jenseits von Kronen und von Religionen
kannst Du heute
gerecht und tolerant
nun Heimat Vieler sein
Was Du aufnimmst
verändert sich und Dich
macht dich reicher
Und: Wer alles ist
braucht vor nichts mehr Angst zu haben
Fremde Freunde kommen
kommen wir ihnen entgegen
Aus unserer Mitte aus Europa aus der Welt die wir doch alle teilen

Deutschland was bist Du vieles und so
verschieden

Als liebstes Land magst Du uns erscheinen
so wie anderen Völkern ihrs
Deutschland Du bist so vieles

Deutschland Land der Mitte
Sei in Frieden mit den Nachbarn
nah und fern

„Als überzeugter Europäerin war mir wichtig, den Gedanken an die Überwindung von jahrhundertelangen erbitterten Kriegen in Europa hervorzuheben, sowie auch das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs, deren Riss mitten durch Europa lief. Außerdem wollte ich kein „Deutschlandlied“ schreiben, dass dem „alten“ begrenzenden narzisstischen Nationalismus huldigt – Nationalitäten sind ohnehin konstruiert, eine Fiktion. Ich stelle mir ein transnationales Europa vor, in dem keineswegs die einzelnen Länder chancenlos „untergehen“. Deutschland sehe ich in einem solchen Europa mit und neben anderen Ländern stehen – wie Brecht schon schrieb, „und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein“.

Tanja Dückers, geboren 1968 in West-Berlin, lebt und arbeitet in Berlin


Marica Bodrožić: Muttersprachland

Mehrfarbigkeit, Überklanglichkeit  &
Herzschiffe für das deutsche Muttersprachland.
Die offenen Grenzen, vielgestaltig – angstfrei
wachsen zur Freiheit, zur Helligkeit,
sind Befähigung zur Andersheit.

Deutsche Worte, deutsche Welt ist nie ein Singular.
Fremd ist die Welt auch im Eigenen.
Nur so wird sie Erzählerin von Klarheit,
verbündet im Geheimniszustand. Gott ist nicht gestorben,
damit wir nur einen Pass besitzen und das Alphabet verraten.

Herz und Hand vereinen sich, im Muttersprachland
wird alles Welt und sagbar: es gibt ja keine deutschen Vögel.
Alles gehört der Sprache, unverkäuflich ist sie, eine Landschaft:
Auch jenseits der Worte ist die Freiheit kein Bootsverleih.

Einigkeit und Recht und Freiheit
spielen sich im Leben aller Menschen ab.
Der Horizont blüht im ganzen Alphabet,
wer pflücken kann: der staune
auch jedes einzelne Komma an.

Muttersprachland, lass dich nicht pflegen,
weite dich mit jedem neuen Wort,
mit jeder fremden Seelenlandschaft.
Denn dich kann man nicht kaufen,
dich kann man nur bewohnen
und frei sein in deinem unvergänglichen Klang.

„Für mich ist entscheidend, dass das heutige Deutschland  ein Land ist, in dem jeder Bürger ein eigenes „Lied“ haben kann und darf – egal, welche Sprache für ihn seine Muttersprache ist. Diese polyphone Vielfalt schafft die Vision für ein neues, angstfreies Denken, das ich mit innerer Schönheit verbinde. Auch wenn unsere heutige Gesellschaft vielen Reibungen ausgesetzt ist, glaube ich dennoch an diese untergründig arbeitende Form der Ästhetik – und ich vertraue ihr, da ich sie seit über dreißig Jahren in diesem Land erlebe.“

Marica Bodrožić, 1973 in Zadvarje /Dalmatien geboren, lebt und arbeitet in Berlin

 

 

Jan Koneffke: Neues Lied auf alte Weise

Deutschland Deutschland: Kaufhausketten
Hochhaussiedlungen am Rand
Wachstumsraten Warenpaletten
Daimler DAX und Dosenpfand
Plastikbeutel- Hackbuletten-
Bier- und Bolle-Vaterland
Deutschland Deutschland: Kaufhausketten
Hochhaussiedlungen am Rand

deutsche Hybris deutsche Reue
Effizienz und Hysterie
zwischen Loire und Donau neue
Vormacht: Made in Germany
deutsche Einigkeit und Treue:
Unternehmensharmonie
deutsche Hybris deutsche Reue
Effizienz und Hysterie

Recht das gilt und Geld das Recht hat
freier Monetary Flow
Achtung Grenze wer es schlecht hat!
Fluchtasyl brennt lichterloh
Mutterland das wieder Pech hat
deine Lover: hohl und roh
Recht das gilt und Geld das Recht hat
freier Monetary Flow

„Neuerdings wird auf Demonstrationen der Spruch skandiert: „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“. Dabei sind es die selbsternannten Liebhaber Deutschlands, die mit ihrer Intoleranz und Kälte, ihrem Egoismus und blindem Hass gegen alles, was anders ist, dem Land, seinen Bewohnern und sich selbst den größten Schaden zufügen. Der Nationalismus wird zum Leichengräber der Heimat. Die Geschichte lehrt es. Von Fallersleben konnte das zu seiner Zeit nicht wissen. Sein „Lied der Deutschen“ verdient eine heutige Antwort: Bestandsaufnahme gegen nationale Schwärmerei. Ansonsten gilt der Satz eines bedeutenden Bundespräsidenten: „Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau“.

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, lebt und arbeitet in Wien, Bukarest und dem Karpatenort Maneciu


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