„Wir finden immer eine gemeinsame Sprache“

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Bücher, die mehr als ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geraten waren, stehen im Mittelpunkt der Arbeit des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs, der führende Vertreter*innen von Bibliotheken aus Russland und Deutschland vernetzt.

Herr Hamann, Sie sind seit 14 Jahren Leiter der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin und damit Spezialist für deutsch-russische Beziehungen. Warum gibt es einen Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog und welche Rolle spielt die Staatsbibliothek zu Berlin dabei?

Olaf Hamann: Der Deutsch-Russische Bibliotheksdialog (DRBD) ist seit 2009 der Rahmen für Gespräche zwischen Vertreter*innen aus den Bibliotheken beider Länder, der aus einer Initiative der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB), der Kulturstiftung der Länder und der Allrussischen Staatlichen M.I. Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur Moskau entstanden ist. Dabei geht es um einen Informationsaustausch über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Bibliotheken in Deutschland und Russland, die Identifizierung kriegsbedingt verlagerter Büchersammlungen in den Bibliotheken beider Länder sowie die gemeinsame Arbeit deutscher und russischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare an Projekten.

Mehrere Personen sitzen an Tischen in einem Halbkreis.

Das erste DRBD-Treffen in Walentinowka bei Moskau (v.l.n.r): I. Pfeiffer-Poensgen (Kulturstiftung der Länder), B. Schneider-Kempf (SBB PK), J. Genijewa (Bibliothek für ausländische Literatur Moskau), T. Manilowa (russ. Kulturministerium), H. Parzinger (SPK). © SBB PK / Olaf Hamann

Die Vorgängereinrichtung der heutigen Staatsbibliothek, die Preußische Staatsbibliothek (PSB), war als eine der führenden Bibliotheken des Landes während des Zweiten Weltkrieges in die Gestaltung der Besatzungspolitik involviert und hat Einfluss auf die Bibliotheken und deren Sammlungen in den besetzten Ländern genommen. Durch die Evakuierung der eigenen Sammlungen hatte die PSB selbst starke Sammlungsverluste zu verzeichnen: Von mehr als drei Millionen Bänden zu Beginn des Krieges sind heute fast 730 000 im Katalog der Staatsbibliothek als Kriegsverluste gekennzeichnet, für weitere fast 30 000 Titel ist der heutige Aufbewahrungsort in Bibliotheken Russlands oder Polens bekannt.

Der Umgang mit den verlagerten Büchersammlungen beinhaltet einen fachlichen und einen politischen Aspekt. Die Bibliothekar*innen in Deutschland und Russland hatten schon 1992 den Auftakt für einen fachlichen Austausch zu diesen Fragen gelegt. Auch die Politik hat sich damit befasst, aber keine gemeinsame Sprache gefunden. Da die verlagerten Bücher einer Nutzung zugeführt werden sollten, versuchten die o.g. Einrichtungen 2009 mit dem DRBD die fachliche Diskussion und Beschäftigung neu zu organisieren und dadurch die Bearbeitung der Bücher zu fördern. Die SBB hat dabei für die deutsche Seite eine koordinierende Aufgabe übernommen und stimmt sich intensiv mit den betroffenen Einrichtungen in Deutschland und den russischen Partnerbibliotheken ab. Die frühere Generaldirektorin der SBB, Barbara Schneider-Kempf, hatte bisher für die deutsche Seite auch den Co-Vorsitz im DRBD inne. Der neue Generaldirektor, Achim Bonte, hat sich bereit erklärt, diese Aufgabe weiterzuführen.

Gruppenfoto auf einer Bühne.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 8. Treffens zum 10-jährigen Bestehen des DRBD am 18. November 2019 im Humboldt-Saal der SBB PK. © SBB PK / Olaf Hamann / Hagen Immel
Ein Mann übergibt einer Frau ein Paket.
2012 in Perm restituiert die deutsche Co-Vorsitzende des DRBD Bücher an den Rektor der Staatlichen Universität Smolensk, W. Kodin. © SBB PK / Olaf Hamann
Mehrere Menschen betrachten Bücher auf einem Bücherwagen und werden dabei fotografiert.
Während des DRBD-Treffens 2013 in Leipzig restituiert die Familie von der Schulenburg Bücher an das Museum Schloss Pawlowsk, die 1941 vom Sonderkommando Künsberg geraubt worden waren. © SBB PK / Olaf Hamann
Zwei Personen halten ein historisches Dokument in den Händen.
W. Duda (RSB Moskau) übergibt B. Schneider-Kempf ein Buch aus der Preußischen Staatsbibliothek, das ein sowjetischer Soldat als Kriegsandenken aufbewahrt und an die RSB übergeben hatte. © SBB PK / Olaf Hamann / Hagen Immel
Zwei Personen halten ein historisches Dokument in den Händen.
Das 9. DRBD-Treffen fand pandemiebedingt nicht in Petrosawodsk sondern virtuell im Internet statt. T. Iljuschetschkina (Nowosibirsk) und N. Worobjowa (Barnaul) stellen Bücher aus der PSB vor, die heute in der Bibliothek des Altai-Gebietes in Barnaul aufbewahrt werden. © SBB PK / Olaf Hamann

Die Begegnung mit Charlotte muss auch Varnhagen beeindruckt haben. Aus seiner Antwort auf den ersten Brief von Charlotte entstand ein geistreicher Briefwechsel. In seinen Briefen bringt Varnhagen seine Sympathie für seine Briefpartnerin, später auch seine Liebe zum Ausdruck. Zusätzlich informiert er Charlotte ergiebig über das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Hauptstadt, über neuerschienene Bücher, Konzerte, Ausstellungen, über Staatsbesuche und weitere politische Ereignisse. Im Auktionskatalog der Firma Bonham’s werden längere Auszüge aus Varnhagens Briefen veröffentlicht, aus denen ihre Bedeutung als historische Dokumente klar hervorgeht. Ebenso ergibt sich aus diesen Briefen, dass Varnhagen sich wirklich in Charlotte verliebt hatte. Nach der ersten Begegnung in Wiesbaden haben sie sich einige weitere Male persönlich getroffen. Varnhagen hat Charlotte 1839 darum gebeten, seine Frau zu werden, aber diese Bitte hat sie abgelehnt, offensichtlich ohne dass die herzliche und tiefe schriftliche Beziehung der beiden unter dieser Absage gelitten hätte.

Nicht nur das Auktionshaus Bonham’s, auch der englische Besitzer der Briefe Varnhagens, Charles Harvey, ein Nachkomme der Familie Williams-Wynn, der die Briefe bei Bonham’s eingeliefert hatte, meldete sich bei mir mit der Frage, ob die Staatsbibliothek zu Berlin daran interessiert sei, diese Briefe zu erwerben. Ich antwortete ihm umgehend bejahend, fügte aber hinzu, dass dieser Wunsch ohne genügend Erwerbungsmittel nicht zu erfüllen sei.

Über Varnhagen und seine inhaltsreichen Briefe an Charlotte erschien am 29. November 2019 ein ausgezeichneter Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der mit dem Wunsch endete, die Staatsbibliothek zu Berlin möge diese Briefe doch erwerben. Dieser Artikel, einschließlich des letzten Satzes, wurde von dem Berliner Unternehmer Hans-Jürgen Thiedig aufmerksam gelesen. Herr Thiedig meldete sich daraufhin bei mir mit dem Angebot, die Staatsbibliothek zu Berlin in ihren Bemühungen, die Varnhagen-Briefe zu erwerben, zu unterstützen. In einem Telefongespräch sagte Herr Thiedig spontan eine fünfstellige Summe als Spende zu. Dieses wunderbare Angebot habe ich im Namen der Bibliothek dankend angenommen. In der Woche davor hatte ich bereits Kontakt mit der Bernd H. Breslauer Foundation aufgenommen und nachgefragt, ob diese Stiftung der Bibliothek behilflich sein könnte. Als Felix de Marez Oyens, Präsident der Breslauer Foundation, ebenfalls eine fünfstellige Summe in Aussicht stellte und die Staatsbibliothek einen vergleichbaren Betrag aus ihrem Erwerbungshaushalt beisteuerte, konnte ich am 4. Dezember 2020 telefonisch am Bieterverfahren teilnehmen. Meine Freude war groß, als ich die Mitbieter nach und nach überbieten und die Briefe Varnhagens für die Staatsbibliothek zu Berlin erwerben konnte. Wenig später landete eine kurze E-Mail des bisherigen Besitzers Charles Harvey auf meinem Rechner: „Dear Professor Overgaauw: Was it you?“. Meine Antwort war noch kürzer.

Als die Varnhagen-Briefe Mitte Januar 2020 in der Bibliothek angekommen waren, konnte ich nach der Lektüre einiger Dutzend Briefe die Relevanz der Neuerwerbung bestätigen. Varnhagen verfügte über das, was wir heutzutage Insiderwissen nennen. Wie wenige andere war er mit der politischen und kulturellen Elite seiner Zeit vernetzt. Seine Kenntnisse der Berliner Verhältnisse kann man heute nicht nur in seinen ergiebigen Tagebüchern nachlesen, sondern auch in seinen Briefen an Charlotte. Auch Peter Sprengel, Professor emeritus der Germanistik an der Freien Universität Berlin, war von der Qualität dieser Briefe begeistert. Er bereitet inzwischen eine Monographie über Varnhagen und Charlotte vor, in der zahlreiche Briefe Varnhagens erstmals veröffentlicht werden sollen.

Manche schöne Geschichte hat ein trauriges Nachspiel, diese Geschichte jedoch nicht.

Am 10. Februar 2020 meldete sich Charles Harvey erneut bei mir, dieses Mal mit der Mitteilung, dass er auf dem Dachboden seines Landhauses in Südwales einen Karton gefunden habe, die einen Umschlag mit zahlreichen Briefen enthalte. Es sind die verloren geglaubten Briefe von Charlotte Williams-Wynn an Varnhagen, also die Gegenstücke der Briefe Varnhagens an Charlotte, die die Staatsbibliothek gerade in London ersteigert hatte. Nachdem Herr Harvey den Umschlag geöffnet und den Inhalt geordnet hatte, stellte sich heraus, dass 133 Briefe von Charlotte an Varnhagen aus dem Zeitraum 1836–1858 erhalten geblieben waren. Am dichtetesten ist die Korrespondenz im Zeitraum 1842–1846. Es fehlen offensichtlich die Briefe aus dem Zeitraum 1848– 1850.

Die Liste der Orte, an denen Charlottes Briefe entstanden sind, liest sich, abgesehen von den Wohnsitzen Charlottes in London und auf dem Land, wie eine Liste der Urlaubsorte der europäischen Oberschicht im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts: Wiesbaden, Nizza, Paris, Heidelberg, Basel, Luzern, Bath, Rom und Bad Kreuznach. Die langjährige Brieffreundschaft Varnhagens mit Charlotte endete 1858 mit dem Tod Varnhagens. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte Charlotte Williams-Wynn überwiegend in London und in Südfrankreich. Sie starb 1869 unverheiratet.

Die hochgebildete Charlotte war, so ergibt sich aus ihren Briefen, Varnhagen überhaupt nicht abgeneigt. Sie erwidert seine Zuneigung und sie informiert ihn über das, was sie bewegt, über das Schicksal ihrer Verwandten sowie über ihre Ansichten in politischen und religiösen Angelegenheiten. Weshalb sie dennoch Varnhagens Bitte, seine Frau zu werden, ausgeschlagen hat, wird womöglich eine genaue Lektüre der Briefe ans Licht bringen – oder eben nicht. War es die Religion? Charlotte war ein frommes Mitglied der Church of England, während Varnhagen ein nicht-praktizierender Katholik war. War es der damals wichtige Standesunterschied? Charlotte war zweifellos adelig, während Varnhagen trotz seines Namenszusatzes ,von Ense‘ seinen Status als Adeliger erklären musste. Während Varnhagen allenfalls gutsituiert war, war Charlottes Familie vermögend.

Varnhagens Briefe an Charlotte wurden seit Charlottes Tod bei ihren Erben aufbewahrt. Charlottes Briefe an Varnhagen wurden nach dem Tod Varnhagens durch seine Erben entweder an Charlotte oder ihre Erben übergeben. Dies erklärt, weshalb nicht nur die Briefe, sondern auch die Gegenstücke durch Vererbung in den Besitz von Charles Harvey gelangten. Die Zahl der Briefe Charlottes an Varnhagen (133) ist erheblich geringer als die Zahl der Briefe Varnhagens an Charlotte (350). Für diesen Unterschied gibt es bislang keine befriedigende Erklärung. Hat Varnhagen häufiger geschrieben als seine Brieffreundin? Haben die Erben Charlottes unliebsame Briefe aussortiert? Haben die Erben Varnhagens nicht alle Briefe zurückgegeben? Letzteres ist offenbar der Fall: Im Berliner Bestand in Krakau finden sich Briefe Charlottes an Varnhagen aus dem Zeitraum 1836–1839, zusätzlich einige Abschriften von Briefen Varnhagens an Charlotte. Der Umstand, dass Charlotte ihren Briefpartner wohl nie in Berlin besucht hat, und dass die Briefe zwischen den beiden der Öffentlichkeit bislang nicht oder nur eingeschränkt zugänglich waren, erklärt, warum Charlotte in den Biographien Varnhagens kaum eine Rolle spielt. Charlotte war bislang nicht sichtbar.

Mit Charles Harvey habe ich mich im Frühjahr 2020 auf einen für ihn und die Bibliothek annehmbaren Preis für die 133 Briefe von Charlotte an Varnhagen in seinem Besitz einigen können. Für Peter Sprengel bilden diese Gegenbriefe eine unschätzbare Quelle für sein Buch über Varnhagen und seine geliebte Charlotte. Mit der Erschließung dieser bedeutenden Neuwerbung und mit der Edition mindestens eines Teils dieser Briefe Varnhagens und Charlottes wird ein langes Kapitel der Biographie Varnhagens neu geschrieben werden.

Everardus Overgaauw ist Leiter der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Dieser Text erschien zuerst im Bibliotheksmagazin 2/21 (S. 50–57).


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