Musikalische Schätze eines großen Maestros

Artikel

Lesezeit: ca.  min

Erschließung und Digitalisierung der Notenbibliothek von Claudio Abbado

Nicht nur in Berlin, sondern überall auf der Welt erinnert der Name Claudio Abbado an das musikalische Vermächtnis eines der bedeutendsten Dirigenten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Als Nachfolger von Herbert von Karajan trat er 1989 dessen Erbe als langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker an und übte dieses Amt bis 2002 aus. Nach seinem Tod 2014 ging sein Nachlass zunächst in die von seinen Nachfahren gegründete Fondazione Claudio Abbado über. Nach Sichtung und Sortierung in die unterschiedlichen Materialformen, fand der Nachlass dann mittels eines Schenkungsvertrages den Weg in die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Er ist dort nun der vierte Nachlass eines Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, denn neben dem Abbado-Nachlass verwahrt die Staatsbibliothek auch die Nachlässe von Hans von Bülow, Arthur Nickisch und Wilhelm Furtwängler. Doch Claudio Abbado wird darüber hinaus noch in sehr öffentlicher Weise geehrt: seit der Wiedereröffnung des Hauses Unter den Linden im Februar 2021 gibt es eine Etage über dem Musiklesesaal nun auch den Claudio-Abbado-Saal. Man darf also erwarten, dass der Name Claudio Abbado besonders unter Nutzerinnen und Nutzern der Staatsbibliothek zu Berlin in Zukunft wieder häufig fallen wird, wenn die dortigen Baumaßnahmen abgeschlossen sind.

Unbeirrt von pandemiebedingten Einschränkungen und mithilfe der Projektförderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Ernst von Siemens Musikstiftung wird seit September 2020 die Notenbibliothek des Nachlasses katalogisiert und da, wo es das Urheberrecht zulässt, auch digitalisiert. Neben der Notenbibliothek mit etwa 2.000 Bänden enthält Abbados Nachlass außerdem ca. 400 Bände musikwissenschaftlicher Fachliteratur, 2.500 Tonträger und mehr als 20.000 Briefe.

Partitur mit vielen handschriftlichen Notizen und eingeklebten Zettelchen

Partitur der Bühnenmusik zu ‚Ein Sommernachtstraum‘ von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Neben den zahlreichen handschriftlichen Eintragungen wurden hier deutsche und italienische Textpassagen nachträglich eingeklebt (55 Nachl 110 B3-09, S. 130-131)

Die 2.000 Bände der Notenbibliothek decken ein breites Spektrum verschiedenster Komponisten und Epochen ab. Besonders oft sind hier Partituren von Wolfgang Amadeus Mozart (mit 179 Bänden) oder Franz Schubert (mit 90 Bänden) vorhanden und auch Werke von Komponisten wie Arnold Schönberg oder Wolfgang Rihm sind mit ungefähr 20 bis 30 Bänden in Abbados Notenbibliothek vertreten. Von den Komponisten Frédéric Chopin und Aleksandr Skriabin liegt hingegen jeweils nur eine einzige Partitur vor. Hieraus könnte man natürlich Schlüsse ziehen, welche Werke Abbado am häufigsten geprobt und erarbeitet hat und in der Tat gehört Mozart zu den am meisten von Abbado aufgeführten Komponisten. Abbados handschriftliche Eintragungen, die in einem Großteil der Partituren vorhanden sind, liefern hier jedoch tiefe Einblicke und machen deutlich, dass die bloße Anzahl von Partituren eines bestimmten Komponisten nicht alleiniges Indiz für die Intensität und Häufigkeit der Arbeit Abbados mit diesen Werken sein sollte.

Während die handschriftlichen Eintragungen im Notentext interpretatorischer Natur sind (also Tempo, Dynamik und Artikulation betreffen), so dokumentieren seine Eintragungen auf den Titelseiten der Partituren nämlich die organisatorischen Dinge wie Aufführungsorte, -jahre, Orchester bzw. Ensembles sowie gegebenenfalls Solistinnen oder Solisten. Die Shéhérazade von Maurice Ravel führte Abbado beispielsweise zweimal auf: 1989 mit der Sopranistin Margaret Price und dem London Symphony Orchestra und 2008 mit der Mezzosopranistin Elīna Garanča und dem Lucerne Festival Orchestra. Wie die Partitur zur Shéhérazade von Ravel, ist auch die Partitur vom Gustav Mahlers erster Sinfonie in Abbados Notenbibliothek nur einmal vorhanden. Dies bedeutet aber trotzdem nicht, dass er dieses Werk selten aufgeführt hat. Im Gegenteil!

Neben den Eintragungen in den Bänden selbst gibt es zusätzlich auch zahlreiche Beilagen aller Art. Für angehende Dirigentinnen und Dirigenten werden wohl Abbados Dirigierzettel von besonderem Interesse sein, die all denen, die keine absoluten Abbado-Kenner sind, doch eher kryptisch vorkommen können. Selbst nach Monaten des Katalogisierens der Partituren und Dirigierzettel fällt es schwer, die Strukturen, in die Abbado die Werke auf seine spezielle Weise einteilte, zu durchblicken! Weniger kryptisch und dafür umso aufschlussreicher sind dagegen die Rückseiten dieser Dirigierzettel, denn Abbado war hier oftmals Pragmatiker und nutzte Notizzettel aus Hotels, Probenablauf- und Terminpläne zu Konzerten und Aufnahmen oder auch alte Reisetickets. So lässt sich mitunter sehr genau rekonstruieren, wann Abbado welches Werk mit welchem Orchester einstudiert hat und womöglich sogar, wie er dort hingekommen ist und wo er untergebracht war. Darüber hinaus zeigen die Besitzstempel verschiedenster Opern- und Konzerthäuser (zum Beispiel die der Mailänder Scala oder der Berliner Philharmonie) in diversen Partituren außerdem, welchen Status Abbado sich in der Musikwelt erarbeitet hatte. Auf den ersten Blick mag es nämlich so wirken, als ob Abbado die Partituren „mitgehen ließ“. Die Materialien wurden Abbado jedoch für die jeweiligen Produktionen an den Häusern zur Verfügung gestellt und dann auch überlassen. Damit gingen sie in seinen Besitz und somit schließlich auch in seinen Nachlass über.

Partitur mit vielen handschriftlichen Notizen und eingeklebten Zettelchen
Abbados Eintragungen zu Aufführungsort und -jahr auf der Titelseite der Partitur der 1. Sinfonie von Gustav Mahler, mit dazugehörigem Dirigierzettel (55 Nachl 110 B2-135)
In Zeilen und Zellen organisierter Dirigerzettel mit zahlreichen Zahlen und Pfeilen
Dirigierzettel zur Partitur der Oper ‚Aus einem Totenhaus‘ von Leoš Janáček. (Beilage 2 zu 55 Nachl 110 C1-45)

Was die Erschließung dieses Nachlasses so spannend macht, ist seine Vielfältigkeit. Hier befinden sich sowohl gängige Ausgaben bekannter Werke, als auch alte, seltene Ausgaben – etwa Klavierbearbeitungen verschiedener Werke, die den handschriftlichen Besitzvermerk von Abbados Vater Michelangelo tragen. Mal katalogisiert es sich ganz zügig, wenn es sich beispielsweise um ein Werk von Arnold Schönberg in der Ausgabe der Universal Edition handelt, wo Copyrightjahr, Platten- sowie Bestellnummer und Seitenzahlen klar angegeben sind. Das macht die Recherche, das Abgleichen im Bibliothekskatalog und das Anlegen eines neuen Datensatzes für dieses Exemplar recht unkompliziert. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch häufig Fälle, wo für Claudio Abbado beispielsweise eine Auswahl an Liedern von Franz Schubert von unterschiedlichen Bearbeitern aus unterschiedlichen Ausgaben von unterschiedlichen Verlagen zusammengestellt wurde. Auf kohärente Seitenangaben und Plattennummern kann man sich in solchen Fällen also nicht verlassen. Diese komplexeren Bände dauern in der Erschließung folglich um einiges länger, doch machen die Eintragungen – die im Übrigen auch die modernsten und gängigsten Ausgaben unikal machen – und was man aus ihnen schließen kann, die Arbeit umso interessanter. Besonders wenn man bei der Recherche auf Datensätze zu Tonträgern stößt, die genau diese Kombination aus Komponisten, Werken, Bearbeitern, Orchestern, Solisten und dem Dirigenten Abbado aufweisen, wird man aufmerksam. Es ist in solchen Fällen nämlich nicht unwahrscheinlich, dass diese Partitur, die man da gerade vor sich liegen hat, die Grundlage für die CD-Produktion ist, die dieser Tonträger-Datensatz beschreibt. Ohnehin kann es leicht passieren, dass man, vertieft in die kleinteilige Arbeit des Katalogisierens dieser Partituren, den Blick dafür verliert, was man da eigentlich für wertvolles Material vor sich hat. Das gelegentliche Anhören einer Abbado-Aufnahme des jeweiligen Werks, dessen Partitur man gerade erschließt, hilft hierbei, macht Freude und weitet den Blick wieder fürs „große Ganze“.

Gut vorstellbar, dass auch Musikforschende und andere Interessierte so vorgehen werden, wenn sie von überall auf der Welt auf das digitalisierte Material zugreifen und Einblick in die Interpretationsprozesse und musikästhetischen Auslegungen des Dirigenten bekommen werden. Für die Arbeit und das Forschen mit den Bänden und Beilagen, die aus datenschutz- oder urheberrechtlichen Gründen nicht digital verfügbar gemacht werden können, ist der Weg in das frisch sanierte Haus Unter den Linden der Staatsbibliothek zu Berlin jedoch mehr als lohnenswert!

Felicia Stockmann ist Bibliothekarin in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin und arbeitet im Projekt zur Erschließung und Digitalisierung der Notenbibliothek Claudio Abbados. Dieser Text erschien zuerst im Bibliotheksmagazin 2/21 (S. 83–87).


Weitere Artikel zum Thema