Was uns Alexander von Humboldt heute noch zu sagen hat

News from 06/19/2019

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2019 jährt sich der Geburtstag Alexander von Humboldts zum 250. Mal. Die Einrichtungen der SPK beteiligen sich am Jubiläum mit unterschiedlichen Veranstaltungen, etwa einer dreitägigen Ausstellung seiner amerikanischen Reisetagebücher in der Staatsbibliothek im September. Von 5. bis 7. Juni fand eine Internationale Konferenz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt, die gemeinsam mit dem Ibero-Amerikanischen Institut, der Universität Potsdam und der Alexander von Humboldt Stiftung durchgeführt wurde: „Alexander von Humboldt: Die ganze Welt, der ganze Mensch“. Die Ethnologin Barbara Göbel, Direktorin des IAI, sprach dort über Humboldt‘sche Wissenschaften und digitale Transformation und beantwortete uns einige Fragen zur Bedeutung Alexander von Humboldts heute.

Alexander von Humboldt
© bpk / Nationalgalerie, SMB / Jürgen Liepe

Frau Göbel, warum ist Alexander von Humboldt heute für uns heute noch so wichtig?

Barbara Göbel: Ein großer Teil seiner Forschungsergebnisse sind zwar überholt, denn die Wissenschaft entwickelt sich ja weiter. Jedoch ist für uns heute noch die Art und Weise, wie er Wissenschaft betrieben und vermittelt hat, interessant und weiterhin hochaktuell.

Im Zentrum seines Interesses stand etwas, was für uns heute auch sehr wichtig ist: die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Natur und Kultur. Da ist er schon sehr modern vorgegangen. Er hat unterschiedliche Wissensfelder zusammengebracht, vernetztes Wissen und relationale Perspektiven betont, also das getan, das was wir heute mit der Inter- und Transdisziplinarität in jedem größeren Verbundprojekt einfordern.  Die verschiedenen Disziplinen gleichwertig anzusehen, die historisch gewachsenen Trennungen zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften zu überwinden, wenn dies eine differenzierte Betrachtung eines Problems erfordert.

Das ist, glaube ich, eine von ihm betonte Perspektive, die ihn heute noch sehr aktuell macht, wenn wir zum Beispiel an Probleme wie den Klimawandel oder den Verlust an Biodiversität denken.  Darüber hinaus hat er die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in der Wissensproduktion  hervorgehoben. Auch hat Humboldt sowohl die Immaterialität, im Sinne von Praktiken, als auch die Materialität von Wissen betont. So hat er auf seinen Reisen durch Lateinamerika nicht nur Pflanzen, Tiere, Mineralien, Kulturobjekte gesammelt, sondern auch viele Medien wie Tagebücher, Karten, Datensammlungen, Manuskripte produziert. Diese Objekte und Medien sind heute auf viele Institutionen verteilt, in Berlin z.B. im Ethnologischen Museum, in der Staatsbibliothek, im Ibero-Amerikanischen Institut, im Museum für Naturkunde oder dem Botanischen Garten und Museum der FU Berlin.

Heute werden diese Sammlungen wieder neu verknüpft, in dem sie in zunehmendem Maße auch digital zur Verfügung stehen. In meinem Vortrag auf der Tagung setzte ich mich damit auseinander, was wir von Alexander von Humboldt für die digitale Transformation in den Wissensarchiven lernen können.  Die Humboldt‘schen Wissenschaften sind eine Wissenspraxis, die die Wechselbeziehungen betont, unterschiedliche Perspektiven gleichwertig nebeneinanderstellt und die Wissensobjekte immer vernetzt denkt. Die Digitalisierung, als eine Technologie der umfassenden Mobilisierung und Vernetzung von Objekten und Medien ermöglicht uns, dies in großem Ausmaß umzusetzen. Hierdurch können historisch gewachsene Ausdifferenzierungen zwischen Sammlungsinstitutionen – Museen, Bibliotheken, Archive – und Hierarchien zwischen unterschiedlichen Objekten und Medien überwunden werden und neue „Ökosysteme des Wissens“ geschaffen werden.  

Welche Aspekte gibt es noch?

Humboldt hat lokales Wissen, was ja Erfahrungswissen aus der Praxis heraus ist, wertgeschätzt und auch in seinen Erkenntnisprozess einbezogen – zum Beispiel als es um seine Klimaforschungen ging. Wenn wir uns die UN-Agenda der Sustainable Development Goals für 2030 anschauen oder die UN Konvention zur Biologischen Vielfalt spielt lokales und indigenes Wissen eine wichtige Rolle. Hier können wir uns auch von Humboldt inspirieren lassen, der ja die Vielfalt von Wissensformen und Wissenspraktiken anerkannt hat.

Außerdem lag Alexander von Humboldt die Vermittlung von Wissen immer sehr am Herzen. Und zwar nicht nur im klassischen wissenschaftlichen Sin, dass man publiziert, dass man Vorträge hält und so weiter, sondern er hat auch das praktiziert, was wir heute als „citizen science“ bezeichnen, nämlich dass man Orte schafft, in denen man wissenschaftliches Wissen in anderer Form und in unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte hinein vermittelt. Er hat zum Beispiel in den Salons Frauen einbezogen, in einer Zeit, wo das  nur sehr eingeschränkt möglich war. 

Und schließlich hat er auch in seinen politischen Aussagen kulturelle Vielfalt betont, und zwar im Sinne einer Gleichwertung aller Kulturen. Er hat sich gegen Sklaverei ausgesprochen. Er bereiste in einer Zeit Lateinamerikas als die Unabhängigkeitsbewegungen begannen und hat in seinen Äußerungen zu der Ablösung von den Kolonialmächten nicht nur von der Freiheit, sondern auch der Gleichberechtigung der Menschen gesprochen. So hat er politische und gesellschaftliche Akzente gesetzt, die für uns heute auch wichtig sind.

Wie wird Alexander von Humboldt in Lateinamerika heute gesehen?

In Lateinamerika ist Alexander von Humboldt einer der bekanntesten Deutschen. Es ist wahrscheinlich so, dass es mehr Schulen, Straßen, Plätze und Institutionen mit dem Namen Alexander von Humboldt in Lateinamerika gibt als in Deutschland. Man begegnet ihm an jeder Straßenecke, und nicht nur in den Ländern, die er bereist hat. Er gilt ja nicht umsonst als der „zweite Entdecker von Lateinamerika“. Er wird sehr wertgeschätzt, weil er eben auch diese Aufgeschlossenheit und den Respekt gegenüber dem Fremden gezeigt hat und die Neugierde, die Menschen und ihre Umwelt kennenzulernen.

Und was ist für Sie persönlich heute, rund 200 Jahre nach Humboldts Wirken, am beeindruckendsten?

Als Ethnologin mit einigen Jahren Feldforschungserfahrung im Andenhochland zu sozial-ökologischen Themen fasziniert mich seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu dokumentieren und zu beschreiben. Denn es ist unheimlich schwierig, dynamische, komplexe Prozesse zu erfassen und zu systematisieren. Heute haben wir hierfür eine Reihe technischer Hilfsmittel wie Digitalkameras, Aufnahmegeräte, Satellitenbilder. Alexander von Humboldt hatte nur Papier und Tinte und einige wenige Instrumente, die schwer und unhandlich waren. Die Wissenspraxis Humboldts, nicht nur in Bezug auf seine intellektuelle Leistung, sondern auch der mit ihr verbundene enorme körperliche Einsatz, das emotionale Engagement und der logistische Aufwand sind für mich auch heute noch beeindruckend. Das ist ja auch das faszinierende an den Amerika-Tagebüchern – diese Fähigkeit, zu beschreiben, das Fremde, die Vielschichtigkeit von Zusammenhängen zu erfassen. Das braucht nicht nur einen guten analytischen Blick, es braucht auch Sensibilität und Übersetzungswissen, sodass man Komplexität durchdringen und systematisieren kann. Das viele Auf-Schreiben als ein offener Prozess des In-Beziehung-Setzen und des immer wieder in Frage stellen ist eine Wissenspraxis, die bei ihm sehr ausgeprägt war. Das ist ja sozusagen der Kern der Wissenschaft als Form und Praxis der Wissensproduktion. Wenn man sich seine Amerika-Tagebücher anschaut kommt dies einer Archäologie von Erkenntnisprozessen gleich, die relational vorgehen sowie die Vernetzungen von unterschiedlichen Wissensfeldern und Materialitäten betonen.

Man kann wohl sagen, Alexander von Humboldt hat seine obsessive Neugierde ausgelebt – und das ist ja das schönste, was einem passieren kann!

Die Fragen stellte Birgit Jöbstl

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