Von Dependencia zu Buen Vivir: Rezeption lateinamerikanischer Entwicklungsansätze in Deutschland
News from 04/25/2023
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Eine Podiumsdiskussion im Ibero-Amerikanischen Institut (IAI) stellte den Einfluss lateinamerikanischer Theorien und Konzepte in den Mittelpunkt und machte deutlich, wie sehr Europa von lateinamerikanischen Perspektiven auch im Hinblick auf globale Zukunftsfragen profitieren kann.
Im Rahmen der Lateinamerika-Karibik-Woche des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Peter Birle, wissenschaftlicher Direktor des IAI, Thomas Fatheuer, Sozialwissenschaftler und Berater, und Clara Ruvituso, wissenschaftliche Mitarbeiterin im IAI am 28. März 2023 im Ibero-Amerikanischen Institut über die Rezeption der Dependenztheorien und des Konzepts Buen Vivir (gutes Leben) in Deutschland. Dabei ging es um historische Phasen der Entwicklungsdiskussion, um Faktoren, die sich auf die Rezeption theoretischer Konzepte auswirken, sowie um die Rolle von vermittelnden Institutionen und Personen. Für die starke Wahrnehmung der dependenztheoretischen Ansätze in (West)Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren war nicht nur das persönliche Engagement von Mediator*innen wie der venezolanischen Übersetzerin Elena Hochman und dem deutschen Soziologen Heinz Rudolf Sonntag wichtig, sondern auch die Tatsache, dass viele Übersetzungen von Schlüsselwerken der Dependenztheorie in der edition suhrkamp und damit in einem der wichtigsten deutschen Verlage veröffentlicht wurden. Für die Rezeption des Konzeptes Buen Vivir in Deutschland spielte u.a. der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Intellektuelle Alberto Acosta, der mit verschiedenen deutschen Institutionen eng vernetzt ist, eine wichtige Rolle.
Clara Ruvituso wies darauf hin, dass die Dependenztheorie das erste aus Lateinamerika stammende Konzept war, das weltweit zirkulierte, während traditionell die im globalen Norden entwickelten Ideen im globalen Süden rezipiert werden. Das besondere an der damaligen Debatte bestand auch darin, dass viele Autor*innen aus Lateinamerika, den USA und Europa daran beteiligt waren und dass sie interdisziplinär und transregional geführt wurde. Nachdem die dependenztheoretischen Ansätze seit den 1980er Jahren zunehmend kritisiert wurden und etwas in Vergessenheit gerieten, erleben sie zumindest in Lateinamerika selbst seit einigen Jahren ein Revival. Zum einen werden im Zuge der postkolonialen Wende und der damit zusammenhängenden Kritik am Eurozentrismus die eigenen Denktraditionen wiederentdeckt; zum anderen hat der Aufstieg Chinas zu einem zentralen Akteur in Lateinamerika den Debatten über externe Abhängigkeiten neue Impulse verliehen.
Thomas Fatheuer verwies zunächst auf einen zentralen Wendepunkt der Entwicklungsdebatte: spätestens seit den Nachhaltigkeitsdiskussionen der 1980er Jahre wiesen kritische NGOs darauf hin, dass in globaler Hinsicht nicht der Süden, sondern der Norden das eigentliche Problem ist. Aus einer solchen Perspektive geht es weniger darum, den Süden „zu entwickeln“, sondern darum, die Fehlentwicklungen des Nordens zu korrigieren. Der positive Beitrag des Wissens der indigenen Völker wurde im Laufe der Zeit immer stärker thematisiert und kumulierte im Konzept des Buen Vivir. Im Rahmen des Weltsozialforums im brasilianischen Belem im Jahr 2009 traten indigene Vertreter*innen erstmals nicht (nur) für ihre spezifischen Rechte als indigene Völker ein, sondern schlugen das Konzept des Buen Vivir als ein – von indigenen Traditionen ausgehendes – allgemeines gesellschaftliches Leitbild vor. Betont wird dabei das gute Leben in Gemeinschaft im Einklang mit der Natur, nicht das individuelle Wohlbefinden. Solche Vorstellungen bilden ein Gegenkonzept zur Idee der Entwicklung bzw. zu einem mit dem Grundgedanken des Wachstums verknüpfte Leitbild, vielmehr geht es um Tradition, Austausch und Reziprozität als neue Leitgedanken.
Das gesamte Gespräch steht als Mitschnitt auf dem YouTube-Kanal des IAI zur Verfügung.