Paul Spies (l), Elisabeth Tietmeyer, und Udo Gösswald beim Lokaltermin

Vergesst die Goldkelche!

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Das Heimatmuseum hat nichts mehr mit Bauernschränken zu tun – es verändert sich mit der Heimat. Ein Gespräch über kleine Dinge und ein großes Thema.

Wir sitzen hier im Gasthaus „Zur letzten Instanz“, das mit Kachelofen, Butzenscheiben und Hausmannskost fast schon selbst zu einem Museum der Alt-Berliner Heimat geworden ist. Wie ist das in Ihrem Museum – ist „Heimat“ eigentlich noch ein Begriff, mit dem Sie arbeiten?

Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin: Der Heimatbegriff ist Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der  bürgerlichen Gesellschaft entstanden und wurde durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert weiter emotional aufgeladen. Die Gesellschaft befand sich in einer tiefen Umbruchphase und Identitätskrise. Heute spricht man angesichts der Migrationsbewegungen Richtung Europa wieder von Krise. Jene Leute, die Angst vor den „Fremden“ haben und ihnen feindlich gegenüberstehen, führen jetzt wieder den Heimatbegriff ins Feld, mit dem sie ein abgegrenztes Territorium verbinden. „Heimat“ ist für sie ein Ort der Sehnsucht und Vertrautheit, der sich niemals ändert.

Udo Gösswald, Leiter desMuseums Neukölln: 2004 haben wir das Heimatmuseum Neukölln in Museum Neukölln umbenannt – weil der Begriff „Heimat“ so eng ist, Leute eher ausgrenzt, geschweige denn reflexiv wäre. Wenn man hingegen etwas oder sich selbst als fremd empfindet, gibt es ein Bewusstsein und damit wird der Begriff „Fremde“ eher reflexiv als der Begriff „Heimat“.
Diese beiden Pole sind zuerst auf das Individuum bezogen, aber auch für eine Gesellschaft interessant. Ich teile den Krisenbegriff nicht so sehr, weil ich die deutsche Gesellschaft für relativ stabil halte. Sie kann das Fremde aushalten und hält es gerade in Berlin seit mehreren  Jahrhunderten aus.

Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin: Es gibt im Niederländischen keine Übersetzung für „Heimat“. Nur weil die deutsche Serie von Edgar Reitz so populär war, wissen die Niederländer in etwa, was „Heimat“ sein könnte: nämlich ein deutsches Gefühl für Herkunft. Das englische Wort „Home“ ist viel besser. „Home“ ist, wo man sich niedergelassen hat, sich zugehörig fühlt, wo man sich am besten fühlt – im Sinne von Basis. Und das ändert sich immer. Das Stadtmuseum Berlin kann nur sagen: Erzählen Sie mal, Stadtbewohner, was ist für Sie „Heimat“? Dann kommen tausend unterschiedliche Geschichten. „Heimat“ als Monokultur ist vorbei.

Gösswald: Die türkischen Zuwanderer haben zum Teil auch diesen sehr spezifischen, aber engen Begriff von „Heimat“, nämlich das anatolische Dorf. Dort ist die Familie. Wenn man dann jedoch genau hinschaut, entsteht ein komplexes Bild mit vielen Einflüssen, seien es kurdische, armenische oder alevitische. Die Familiengeschichte ist einfach entscheidend. Meine Mutter zum Beispiel ist aus dem Mecklenburgischen vor den Russen geflohen, ich bin in New York aufgewachsen, meine Frau stammt aus Hongkong.

Aber wie zeigen Sie solche Geschichten im Museum?

Tietmeyer: Partizipation – also Teilhabe – ist ganz wichtig. Zum Beispiel zeigen wir in unserem Museum eine Ausstellung des Vereins „Rete Donne“, ein Netzwerk italienischer Frauen, die aufgrund der Wirtschaftskrise in ihrem Land zum Arbeiten nach Berlin gekommen sind. Mit Installationen in der Dauerausstellung stellen diese Frauen ihre Migrationserfahrungen anhand von bestimmten persönlichen Objekten dar. So sieht man, wie sie ihre Heimat Italien empfinden und nun Berlin sehen. Wir als Kuratorinnen würden es uns gar nicht zutrauen, so etwas auszustellen, das können nur die Protagonistinnen selbst machen.

Es gibt einen Rechtsruck in ganz Europa, die Begriffe ‚Heimat‘, ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ werden für politische Zwecke missbraucht. Mit ihnen wird eine heile Welt vorgegaukelt, in der sich die Menschen geborgen fühlen sollen, ohne zu reflektieren und sich auf das Andere einzulassen. Genau das Gegenteil wollen wir mit unserer Museumsarbeit bezwecken.

Gösswald: In den Objekten liegen oft komplexe Geschichten, wie zum Beispiel in dem bronzenen Modell der Skulptur des Johann Amos Comenius, die wir in unserer ständigen Ausstellung „99 x Neukölln“ zeigen. Die überlebensgroße Skulptur war ein Geschenk der tschechischen Regierung und wurde zum 400. Geburtstag des bedeutenden böhmischen Theologen, Pädagogen und Philosophen 1992 im Neuköllner Comenius-Garten in Anwesenheit des damaligen Parlamentspräsidenten Alexander Dubček, der Leuchtfigur des Prager Frühlings, aufgestellt.
Comenius, der letzte Bischof der Brüder-Unität, war selbst ein Exilant in vielen europäischen Ländern und teilte das Schicksal mit den böhmischen Zuwanderern nach Rixdorf im 18. Jahrhundert, die aufgrund ihres Glaubens Böhmen verlassen mussten. Bei der Enthüllung der Skulptur wies Dubček ausdrücklich darauf hin, dass viele deutsche Sozialdemokraten und Kommunisten 1933 ins Exil in die Tschechoslowakei geflüchtet sind.

Spies: Und dann geht es natürlich darum, mit einer klugen Erzähltechnik die Leute zu interessieren für die scheinbar alltäglichen Dinge wie eine kleine Bronzestatue oder eine Landkarte. Die große Kunst hat es leicht. Man hat ein schönes Museum mit weißen Wänden, dazu die großen Namen Picasso und Gauguin.
Man hängt die Werke mit einem kurzen Text dazu auf und die Kasse klingelt. Unsere Aufgabe ist komplizierter: Wir müssen uns anstrengen, um so eine Relevanz zu erreichen – und trotzdem, wer uns zuhört, sagt manchmal: Das ist aber interessant, eigentlich viel besser als ein Bild von Gauguin. Wir müssen eine Ausstellungstechnik entwickeln, die unsere Objekte und Geschichten so stark erzählt, dass sie wie ein Gauguin erfahren werden.

Herr Spies, im Humboldt Forum soll es ja auch einen neuen Umgang mit den Objekten geben. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Spies: Es gibt Objekte, die keine heiligen Sachen mehr sind, die nur der Kurator mit weißen Handschuhen anfasst. Sie kehren wieder zurück in die Communities, werden ausgeliehen für Rituale. Surinamer in Amsterdam hatten für Keti Koti, die Feier zur Abschaffung der Sklaverei, einen Künstler beauftragt, eine Maske zu machen. Wir bewahren sie in unserem Depot auf und geben sie jedes Jahr heraus. Sie darf runterfallen, kaputtgehen, wenn sie nur bei diesem Tanz zu Keti Koti von der Priesterin getragen wird. Denn dann bekommt so ein Ding eigentlich erst Wert. Es muss jahrein, jahraus immer wieder benutzt werden. Das war bei uns natürlich total neu, erst mal wollte man keine Inventarnummer vergeben, denn dann gilt es als Kunst und darf nicht mehr berührt werden. Nun holen sich die Surinamer in den Niederlanden jedes Jahr diese Maske und veranstalten damit ein afrosurinamisches Ritual.

Paul Spies (l), Elisabeth Tietmeyer, und Udo Gösswald beim Lokaltermin
Paul Spies (l), Elisabeth Tietmeyer und Udo Gösswald, beim Lokaltermin © SPK / Ina Niehoff
Im ältesten Restaurant Berlins, gegründet 1621, geht es deftig zu. Allerdings gibt es inzwischen auch Spinatsalat
Im ältesten Restaurant Berlins, gegründet 1621, geht es deftig zu. Allerdings gibt es inzwischen auch Spinatsalat © SPK / Ina Niehoff
Restaurant „Letzte Instanz“ in Berlin
Im Schatten der Parochialkirche: Schon oft wurde hier diskutiert und in „letzter Instanz“ Frieden geschlossen © SPK / Ina Niehoff
Im ältesten Restaurant Berlins
Im ältesten Restaurant Berlins © SPK / Ina Niehoff
Museum Europäischer Kulturen
© Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen / Ute Franz-Scarciglia

Wie nehmen die Besucher denn diese neue Art von Museum an?

Tietmeyer: Mir ist aufgefallen, dass Besucher, vor allem internationale, gerne Dinge sehen wollen, die sie von zu Hause kennen. Das evoziert natürlich – in der Regel positive – Gefühle, wenn man vertraute Objekte sieht. Aber viele lernen natürlich auch gern etwas Neues kennen.

Gösswald: Man kann immer mehrere Ebenen anbieten. Ich finde es durchaus legitim, dass man bekannte Dinge zeigt. Aber genauso wichtig ist es, den Zwischenbereich zu haben, wo die Leute halb wissen, was es ist oder eben gar nicht. Man will ja mit unbekannten Dingen die Neugierde wecken, darf die Leute aber auch nicht komplett verunsichern, indem man nur Sachen hinstellt, von denen sie keine Ahnung haben.

Spies: Es ist für uns sehr schwierig, die vielen unterschiedlichen Zielgruppen gleichzeitig zu bedienen. Und trotzdem versuchen wir es immer, oder wir konzentrieren uns auf kleinere Zielgruppen. Wir müssen uns als Stadtmuseum jedes Mal aufs Neue selbst finden: Was sind wir eigentlich? Wozu dienen wir genau? Unsere Ambition ist, mehr zu tun, als eine gefällige Ausstellung ohne gesellschaftliche Qualitäten zu zeigen. Wir wollen die gesellschaftliche Diskussion anregen. Oder dass Gruppen, die man normalerweise nicht erreicht, mitmachen. Das Museum ist ein demokratisches Institut, und man sollte sein Bestes tun, um dem auch gerecht zu werden.

Gösswald: Wir haben den Anspruch, das gesamte Publikum zu erreichen, und erfüllen das auch. Jeder findet sein Objekt – vom Universitätsprofessor bis zum siebenjährigen Mädchen. Das Entscheidende ist, dass man das Publikum dazu auffordert, sich selbst die Dinge zusammenzusuchen, die es interessiert. Wir haben keine Überschriften mehr, keine Chronologie. Wir bieten Wissen an, aber der Besucher selber entscheidet, wie viel er davon mitnimmt und wovon er sich ansprechen lässt.

Tietmeyer: Manchmal treffen wir noch  auf die Erwartungshaltung von Besuchern, dass wir die „Völker“ oder die Kulturgeschichte Europas ausstellen. Davon sind wir weit entfernt. Auf die Frage: „Wie stellt man ein Volk, eine Nation oder gar ganz Europa aus?“ hätten wir gar keine Antwort. Wir gehen stattdessen thematisch vor, oft auch kulturvergleichend. Dabei wird der Besucher mit einem Thema und konkreten Objekten aus seiner eigenen Kultur und anderen Kulturen konfrontiert, die er durch den direkten Vergleich dann besser versteht.

Spies: Für das Humboldt Forum wollen wir, dass auch die Besucher ihre Geschichten hinterlassen. Museum soll mehr sein als das alte „Wir sprechen, ihr hört“. Wir wollen das umdrehen und sagen: „Erzählen Sie uns etwas“. Das entspricht den Ansprüchen der neuen Generation: Die jungen Leute möchten immer von Anfang an beteiligt werden. Wir werden auch Umfragen dazu machen, was die Berliner vom Humboldt Forum erwarten.

Die große Kunst hat es leicht. Man hängt die Werke mit einem kurzen Text dazu auf und die Kasse klingelt. Unsere Aufgabe ist komplizierter: Wir müssen eine Ausstellungstechnik entwickeln, die unsere Objekte und Geschichten so stark erzählt, dass sie wie ein Gauguin erfahren werden.

Tietmeyer: Dazu würde ich dringend raten, denn wir hatten damals das Publikum nicht nach der Erwartungshaltung an ein neues europäisch orientiertes Museum gefragt. Als das Museum für Deutsche Volkskunde mit seinen Bauernmöbeln, Trachten, Keramik, Handwerksgeräten et cetera geschlossen wurde und dann durch das Museum Europäischer Kulturen 1999 ein anderes Profil erhielt, gab es auch kritische Stimmen, Fragen à la: „Wie erkläre ich jetzt meinen Kindern die deutsche Heimat?“ Die thematische Herangehensweise an Alltagskultur mit historischen und aktuellen Objekten nicht nur aus deutschen, sondern auch anderen europäischen Gebieten wurde damals nicht von allen verstanden und gutgeheißen. Das sieht heute allerdings ganz anders aus.

Warum wurden das Museum für Deutsche Volkskunde und die europäische Sammlung des damaligen Museums für Völkerkunde zum Museum Europäischer Kulturen zusammengelegt?

Tietmeyer: Das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes, das spätere Museum für Deutsche Volkskunde, wurde 1889 von Rudolf Virchow gegründet. Dies war auch  Ausdruck der „Krise der Moderne“, denn hier sollte man sich der untergehenden ländlichen Kultur im Zuge der Industrialisierung erinnern. Die „gute alte Zeit“ sollte bestehen bleiben. Heute gibt es immer noch Heimatmuseen, die dieses Gefühl transportieren möchten. Gesellschaften ändern sich aber stetig, und dem wollten wir damals Rechnung tragen.
Darum war es unumgänglich und absolut richtig, das Museum für Deutsche Volkskunde europäisch zu erweitern und thematisch zu aktualisieren. Kultur macht nicht vor nationalen Grenzen halt, übrigens auch nicht vor Europa. Grenzen sind immer durchlässig, man beeinflusst sich durch Kulturkontakte gegenseitig.

Gibt es eine identitätsstiftende „Heimat Europa“?

Tietmeyer: Das kulturelle Europa ist keine Entität, genauso wenig wie das Dorf oder die Stadt. In Brüssel wird jetzt gerade das Haus der Europäischen Geschichte eingerichtet. Scheinbar ist das nötig, aber an und für sich wurden die Verantwortlichen von dem gleichen Impetus bewegt wie damals die Macher des Museums für deutsche Volkstrachten oder anderer ethnografischer Museen in Europa: das Museum als Mittel der Identifikation und als Ort der Identität.

Wir gehen hingegen anders vor: Ein Berliner Modedesigner hat uns zwei „Europa-Kostüme“ aus recyceltem Material für unsere Dauerausstellung angefertigt. Daran kann diskutiert werden, wie wir oder andere „europäische Kultur“ sehen. Natürlich haben die Europäer gemeinsame Erfahrungen, eine gemeinsame Geschichte, sind geprägt von der jüdisch-christlichen Religion – aber kulturell war Europa divers und wird es immer bleiben. Eigentlich ist Europa eine Idee, allerdings eine „wirkmächtige Fiktion“. Aber ob es eine „Heimat Europa“ gibt? Als ich in Kenia gelebt habe, fühlte ich mich als Europäerin; als ich zurück nach Europa kam, habe ich  mich wieder als Deutsche beziehungsweise Westfälin definiert.

Nach den Anschlägen in Paris oder Brüssel hat man aber schon gemerkt, was das Europäische in uns ist, nämlich unser freies Lebensgefühl.

Gösswald: Ich fand das Hashtag #jesuiseurope nach den Anschlägen in Brüssel, ins Herz Europas, sehr interessant. Trotz der ganzen Schwierigkeiten glaube ich, dass sich ein Europa durchsetzt, in dem die Länder zusammenarbeiten – allein aus ökonomischen und rationalen Gründen. Wenn man sich die globale Wirtschaft anguckt, müssen sie das auch.

Wir haben keine Überschriften mehr, keine Chronologie. Wir bieten Wissen an, aber der Besucher selbst entscheidet, wie viel er davon mitnimmt oder wovon er sich ansprechen lässt.

Spies: Ich glaube, dass Brüssel total bewusst gemacht hat, dass man etwas zu verteidigen hat. Es verhärtet sich beiderseits. Jene Leute, die eine offene Gesellschaft stimulieren möchten, sind sich jetzt noch besser dieses Wertes bewusst. Wenn Europaskeptiker gewinnen, dann ist das immer auch ein Angriff auf uns alle, der uns wach rüttelt. Die Leute werden immer mehr schätzen, dass man eine Gemeinschaft hat, in der Frieden total wichtig ist.

Tietmeyer: Dramatisch finde ich nationalistische Bestrebungen wie in Polen, Ungarn oder der Slowakei. Aber eigentlich gibt es einen Rechtsruck in ganz Europa; diese Herrschaften arbeiten bewusst mit den Begriffen „Heimat“, „Kultur“ und „Identität“, indem sie sie für ihre politischen Zwecke missbrauchen. Mit ihnen wird eine heile Welt vorgegaukelt, in der sich die Menschen geborgen fühlen sollen, ohne zu reflektieren und sich auf das Andere einzulassen. Genau das Gegenteil wollen wir mit unserer Museumsarbeit bezwecken.

MEK / Museum Europäischer Kulturen

Das Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin sammelt, erforscht, bewahrt, präsentiert und vermittelt Alltagskultur und Lebenswelten in Europa vom 18. Jahrhundert bis heute – aus kulturanthropologischer und vergleichender Perspektive.
1873 als Museum für Völkerkunde gegründet, besteht das MEK in seiner heutigen Form seit 1999. In diesem Jahr wurde die europäische Sammlung des Museums für Völkerkunde mit den Beständen des ehemaligen Museums für [Deutsche] Volkskunde vereint.