Heimat ist dort, wo wir hinkommen

08.08.2016Heimat ist dort, wo wir hinkommen

An preußischen Gräbern: Jürgen Kloosterhuis, Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, im Gespräch über Gemeinschaft und Geheimnisse

Von Daniel Schreiber

Jürgen Kloosterhuis trifft uns in seinem Reich, dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem. Die Dahlemer Direktorenvilla und das anhängige Archivgebäude wurden Anfang der 1920er-Jahre errichtet, herrschaftliche Gründerzeitelemente mischen sich mit sachlicher Architektur. Sie strahlen einen ganz eigenen historischen Charme aus. Seit zwei Jahrzehnten leitet Kloosterhuis die Geschicke des Hauses, er ist einer der renommiertesten deutschen Archivare und Historiker. Gerade hat er das letzte Jahr seiner Amtszeit begonnen.

Daniel Schreiber: Herr Kloosterhuis, Sie kommen aus Oberfranken, haben in Freiburg und in Wien studiert. Angesichts dieser eher unpreußischen Herkunft: Woher kam Ihre Faszination für das Königreich?

Jürgen Kloosterhuis: Ich kann behaupten, schon von früher Jugend an preußisch eingenordet worden zu sein. Mein Elternhaus vermittelte ein äußerst positiv besetztes Bild von Preußen.

Jürgen Kloosterhuis, Direktor des Geheimen Staatsarchivs PK (l), und Autor Daniel Schreiber, am Bornstedter Friedhof
In der Wandelhalle der Geschichte: Jürgen Kloosterhuis (l) und Daniel Schreiber © SPK / Ina Niehoff

War die Position Ihrer Eltern damals nicht eher ungewöhnlich?

Die Denkrichtung vor allem meines Vaters war bestimmt nicht allgemeinverbindlich. Für ihn ging es darum, dass das Verhängnis, das 1933 über Deutschland hereinbrach, eben nicht die logische Konsequenz aus der preußischen Geschichte darstellte – eine Sicht, die in den 1950er- und 1960er-Jahren ja weitverbreitet war.
Dass Preußen ein Militärstaat war, ist unbestritten. Aber für ihn war die Linie, die viele von Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler zogen, falsch, und er hatte, wie wir heute wissen, recht. Das hatte nichts mit Monarchismus zu tun. Es ging ihm um die kulturelle Erinnerung an ein bedeutendes Land, das unwiderruflich verloren war. Diese Erinnerung wollte er sich nicht nehmen lassen.

Heute gilt Preußen nicht mehr als historischer Sündenbock. Es ist sogar mit einem gewissen Glamour verbunden.

Ich glaube, dieser Imagewandel hat viel mit der Wiedervereinigung zu tun. Dadurch ist der preußische Teil unserer Geschichte viel konkreter erfahrbar und begehbar geworden als früher. Die Arbeit des Geheimen Staatsarchivs war und ist bei dieser Geschichtserkundung unverzichtbar. Wir bieten die jahrhundertealte schriftliche Hinterlassenschaft des ehemaligen Brandenburg-Preußens zur Nutzung an, relativ unbeschädigt, gut erhalten und ohne große Kriegsverluste.

Wir sind zwar ein Staatsarchiv, das den Staat verloren hat. Aber die Akten reden zu Ihnen, wenn Sie eine bestimmte Frage stellen. Wir haben es mit unserer preußischen Geschichte nicht leicht, wir brauchen eine differenziertere Sicht, wir müssen uns mehr und kritischer mit ihr auseinandersetzen als anderswo.

Der Blick auf diese Geschichte macht deutlich, dass der preußische Staat als politisches Konstrukt überhaupt nicht so stabil war, wie man allgemein annimmt. Wie erklären Sie sich das?

Zunächst gehört Preußen zu den Staatsgebilden der Neuzeit, die relativ spät gestartet sind. Die etablierten Großmächte verfügten über geschlossene Herrschaftsgebiete. Im Gegensatz dazu war Preußen ein Flickenteppich. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als die Berliner durch Erbfolge und eine Heiratsverbindung die Herzogtümer Kleve im Westen und (Ost-)Preußen im Osten erhielten, wurde eine Expansion möglich. Mit der Verbindung Kleve – Berlin – Königsberg hatte man den Rahmen gespannt, und die Frage war nun, ob dieser territorial ausgefüllt werden konnte oder nicht.

Wenn sich um 1710 drei gebildete und politisch erfahrene Gesprächspartner zusammengefunden hatten, um sich zu überlegen, was der wichtigste deutsche Staat des 18. Jahrhunderts werden würde, hätten sie wohl auf Sachsen oder Hannover getippt, keiner von ihnen wäre auf Brandenburg-Preußen gekommen. Das Geheimnis der preußischen Geschichte liegt darin, es doch geschafft zu haben. Nach dem tiefen Schlag durch die napoleonischen Kriege kam es später noch einmal zu einem enormen Kräftebündeln und 1871 schließlich zur Reichseinigung.

Skulptur auf dem Bornstedter Friedhof in Potsdam
Auf dem Bornstedter Friedhof in Potsdam liegen Weinhändler, Hofgärtner und Generäle © SPK / Ina Niehoff

Schon in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg kam die Sprache auf den Bornstedter Friedhof mit seiner eleganten Stüler-Kirche, auf den wir unser Gespräch nach einer kurzen Autofahrt verlegt haben. Jahrhundertealte Eiben werfen ihre Schatten auf efeuberankte Grabsteine und kunstvolle Trauerskulpturen, zwischendrin ein paar Birken in lichtem Frühlingsgrün. Jeder, der in Preußen etwas auf sich hielt, wollte hier begraben werden: von den königlichen Hofgärtnern, die sich um die Parkanlagen von Sanssouci kümmerten, über Potsdams Weinhändler bis hin zu preußischen Generälen. Es ist ein Wunder, dass der Friedhof und das ihn beherbergende Krongut Bornstedt, ein italienisch-barockes Kunstdörfchen und einstiger Sitz von Kronprinzessin Victoria, keine größeren Touristenmagnete sind.

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Jeder, der in Preußen etwas auf sich hielt, wollte hier begraben sein.

Kloosterhuis kennt fast jeden Grabstein und fast jede Geschichte dahinter. Er zeigt uns die Stätte, an der einer der Langen Kerls, die berühmten Soldaten von Friedrich Wilhelm I., begraben ist; weist auf das Grab von Peter Joseph Lenne hin, dem visionären Landschaftsarchitekten, der im Wesentlichen mitbestimmt hat, wie Potsdam und Berlin heute aussehen. Erich von Falkenhayn, der preußische Kriegsminister, der Wilhelm II. zur  Kriegserklärung im Ersten Weltkrieg drängte, fand hier ebenso seine letzte Ruhestätte wie sein Schwiegersohn, der große Widerstandskämpfer Henning von Tresckow. Die Tour durch Bornstedt entpuppt sich als eine Tour durch die Sedimente preußischer und deutscher Erinnerungskultur.

© SPK / Ina Imhoff
Zwei Grabsteine auf dem Bornstedter Friedhof
© SPK / Ina Imhoff

Preußen, das sind Disziplin und Pickelhaube, aber auch Sanssouci, Humboldt und Voltaire, „Krieg und Frieden“, das von Schinkel erbaute Berlin. Wie erklären Sie sich diese Tradition?

Friedrich der Große, auf den ein Großteil dieser Tradition zurückgeht, war ein geschickter PR-Manager, sowohl seines Staates als auch seiner eigenen Person. Er war in dieser Beziehung schlicht modern. Als Monarch hatte er ein Gespür dafür, dass er in der Ausübung seiner Rolle, vielleicht auch im Unterschied zum französischen König, nicht unhinterfragt durch sein Land schreiten konnte, sondern dass er auf die öffentliche Wahrnehmung und auch die Beeinflussung der ausländischen Meinung angewiesen war.

Noch sein Vater hatte das nicht als Aufgabe erkannt. Überhaupt war es über weite Strecken ein Alleinstellungsmerkmal des preußischen Staates, dass er zeitgenössisch modern war. Seine Verwaltungsstrukturen waren so tragfähig, dass sie uns bis in die jüngste Vergangenheit erhalten geblieben sind, ebenso die allgemeine Wehrpflicht. Der Prozess der Sakularisierung begann in Preußen rund hundert Jahre früher als im Rest Europas. Auch der preußische Toleranzbegriff hat hier seine Wurzeln.

Glauben Sie, dass man jemals von einer preußischen Identität oder einer preußischen Heimat sprechen konnte?

Man sagt oft, dass Preußen nie ein Nationalstaat war, sondern ein Rationalstaat. Dass das Territorienkonglomerat zwischen Kleve und Königsberg, das sich mit der Eroberung Schlesiens auch in den europäischen Südosten ausweitete, als Preußen wahrgenommen wurde, ist meiner Meinung nach erst eine Entwicklung des späteren 18. Jahrhunderts. Im und nach dem Siebenjährigen Krieg entstand auch ein Gefühl der Gemeinsamkeit innerhalb von Preußen.

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Die Preußen gab es lange Zeit überhaupt nicht.

Trotzdem sprach man lange nicht von den Preußen, sondern von den Schlesiern, Ostpreußen, Westpreußen, Magdeburgern oder Westfalen. Es gibt einen deutschen Nationalismus, aber es hat nie einen preußischen Nationalismus gegeben. Preußen war immer nur ein geistiger Bezugspunkt. Seine Landesteile mit ihrem ausgeprägten Regionalbewusstsein konnten eine Heimat sein, Preußen selbst aber nicht.

Grabstein auf dem Bornstedter Friedhof
Memento mori: Grabstein auf dem Bornstedter Friedhof © SPK / Ina Niehoff

Die Flucht und die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg markierten in mancher Hinsicht das endgültige Ende des preußischen Staates und seiner einstigen Ausdehnung. Das Gefühl des  Verlusts von Heimat schien damals enorm gewesen zu sein.

Sie sprechen eine emotionale Ebene an. Es gibt ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und nach Heimat, das ist etwas sehr Menschliches. Andererseits haben diese fürchterlichen Schicksale, die Menschen erleiden mussten, weil sie fliehen mussten oder vertrieben wurden, irgendwann auch zum Aufbau von neuen Identitäten und neuen Bezugspunkten  geführt. Die Erinnerung an das Alte hat sicherlich lange eine Rolle gespielt, aber sie ist auch blasser geworden. Es liegt mir sehr am Herzen, dass man Heimat nach unseren historischen Erfahrungen anders definiert als früher. Wir sollten Heimat nicht als den Ort verstehen, von dem wir herkommen, sondern als einen Ort, den wir suchen und zu dem wir – sei es allein, sei es zusammen mit anderen – hinwollen.

Geheimes Staatsarchiv PK in Berlin-Dahlem
© GStA PK/ Christine Ziegler; Joachim Kirchmair

Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz

Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz mit Sitz in Berlin-Dahlem verwahrt und erschließt als „Gedächtnis Preußens“ Urkunden, Akten, Amtsbücher, Karten und andere Dokumente aus über 800 Jahren (brandenburg-) preußischer Geschichte. Daneben verfügt es über eine Bibliothek mit etwa 190.000 Bänden. 
Neben dem Erhalt und der Erschließung seiner Bestände leistet das Archiv durch eigene Publikationen einen Beitrag zu den Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Es bietet zudem Dienstleistungen für Wissenschaftler und für interessierte Laien. Darüber hinaus ist es das zentrale Verwaltungsarchiv für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Website des Geheimen Staatsarchivs – Preußischer Kulturbesitz

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