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Aber selbstverständlich!

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„Ich möchte eine Heimat haben, in der ich beides sein kann: das, was ich war, und das, was ich geworden bin, und noch werde“.

Wenn ich anfange, über das Wort „Heimat“ nachzudenken, dann sind es meist recht ungreifbare Dinge, die mir als Erstes in den Sinn kommen. Das sind Gerüche aus der Kindheit – ein bestimmtes Kaugummi, das es in der Sowjetzeit gab, bestimmte Fäden, aus denen die Pullover gestrickt waren, die man trug, die Beschaffenheit der Schulbank, welche man jahrelang gedrückt hat. Dieses leicht aufregende Gefühl, das Kribbeln im Bauch, wenn meine Großmutter an mein Bett kam, um mir vorzulesen, die kühle Hand meiner Mutter auf meiner Stirn, wenn ich Fieber hatte.

Es sind Orte – ein bestimmter Ausblick von der Vater-David-Kirche über Tiflis, die Treppen im Vake-Park zum Siegesdenkmal hinauf, wo das ewige Feuer für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten brannte und die ich mit meiner besten Freundin um die Wette hinauf rannte. Es sind Geschmäcker – die Estragonlimonade und das Mandelgebäck, das man in einer bestimmten Konditorei auf dem Rustaweli-Boulevard kaufen konnte. Es ist aber auch eine bestimmte Haltung Dingen gegenüber, die mir angeboren zu sein scheint, trotz meiner jahrelangen Auseinandersetzungen mit meiner Kultur und meiner Herkunft, trotz allen kritischen Hinterfragungen bestimmter Bräuche und Traditionen. Es sind aber vor allem Erfahrungen, die man wie in einem großen, für die anderen unsichtbaren Sack ansammelt und den man stets über die Schulter geworfen mit sich trägt. Es sind aber auch Erinnerungen aus meinem Leben in Deutschland – an bestimmte Situationen mit bestimmten Menschen. Die Momente, in denen ich mich gelöst und frei, verstanden und beheimatet gefühlt habe.

Nino Haratischwili

Die Regisseurin, Dramatikerin und Romanautorin ist in Tiflis geboren und lebt heute in Hamburg. Schon ihr Romandebüt „Juja“ (2010) stand auf den Long- und Shortlists der deutschen Buchpreise, für ihren neuer Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ (2014) erhielt sie unter anderem den Anna Seghers-Preis. Für das SPK-Magazin erzählt sie nicht nur aus ihrer Kindheit in Georgien, sondern schreibt auch vom ganz selbstverständlichen Dasein, aus dem ein Heimatgefühl erwachsen kann.

Ja, ich versuche weiterhin, diesen Begriff zu greifen, die Emotionen untersuchend, die heraufbeschworen werden, wenn ich an dieses Wort denke. Was sind das für welche? Ist es so, dass mich die Fremdheit in vielen verschiedenen Situationen hierzulande daran hindert, dieses Land als mein Zuhause zu bezeichnen? Fehlen mir Gefühle, Emotionen, die ich zum Leben brauche wie die Luft zum Atmen und die ich oft in meinem Alltag nicht zulassen darf, weil die hiesige Gesellschaft großen Wert aufs Funktionieren legt, während die georgische Gesellschaft vom Funktionieren weit entfernt ist? Sind es die nicht enden wollenden Fragen nach dem Grund, warum ich nicht in meiner Muttersprache schreibe, oder in welcher Sprache ich träume?
Aber in Georgien fühle ich mich oftmals nicht weniger fremd. Mein Gefühl gegenüber diesem Land hat sich radikal verändert, seit ich fort bin. Die Ferne, der Abstand schaffen unweigerlich eine Distanz, die die Dinge in einem anderen Licht dastehen lässt. Und dieses Licht ist ziemlich gnadenlos.

Auch der Blick der anderen auf einen selbst verändert sich mit der Zeit: Man verliert eine gewisse Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit. Und vielleicht lässt sich mit dieser Beschreibung am besten benennen, was Heimat für mich ist, viel mehr, als es ein Ort, eine Kultur, gar eine Sprache je sein können – denn all das lässt sich ausdehnen, erlernen, sich aneignen. Ja, es ist genau dieses Selbstverständliche im Umgang mit sich, den anderen und der Umgebung, dem kleinen Stück Welt, das man als eigenes erachtet.

Man ist einfach da und versucht nicht, irgendwas oder irgendwer zu sein. Vielleicht entsteht für mich dieses Gefühl, irgendwo heimisch zu sein, immer dann, wenn Dinge selbstverständlich gegeben sind. Wenn man weder sein Verhalten noch seine Identität infrage stellen muss. Und vielleicht ist genau das das Tragischste am Verlust dieses Gefühls: dass sich das Alltägliche auflöst, dass es keine Mitte mehr gibt, dass nur noch Extreme bleiben, zwischen denen man sich bewegt. So wird die Heimat immer mehr zu einer idealisierten Vorstellung, die nicht mehr im täglichen Leben verwurzelt ist.

Dennoch ist es sehr wichtig, zu unterscheiden, aus welchen Nöten, Interessen oder Motivationen Menschen diese selbstverständliche Zugehörigkeit aufgeben. Ob sie es freiwillig tun oder dazu gezwungen sind. Je nach Kontext kann diese Entscheidung Segen oder auch Fluch sein. Vielleicht verbinden viele der Menschen, die meinen Migrationshintergrund teilen, die Heimat mit dem Land ihrer Eltern. Vielleicht ist dieses Land für sie aber nur ein ferner Ort ohne Alltag. Möglicherweise umgibt sie dieses Gefühl, diese Blase des Nichtdazugehörens, weder dort noch hier.

Die Ferne, der Abstand schaffen unweigerlich eine Distanz, die die Dinge in einem anderen Licht dastehen lässt. Und dieses Licht ist ziemlich gnadenlos

Aber vielleicht entdecken sie, wie ich irgendwann auch, diese gewisse Narrenfreiheit, die mit der Entwurzelung einhergeht: Dinge anders und neu zu tun, sagen und denken zu können, gerade weil man nun einen anderen Blick hat, gerade weil man sich stets damit auseinandersetzen muss, wer man ist und woher man kommt. Aber wie soll ich, wie kann ich für diejenigen sprechen, ihre Gefühle benennen, die unter Lebensgefahr, unter Bombenhagel oder Beschuss sich auf den Weg machten, fort aus ihrer Heimat, weg aus ihrer Selbstverständlichkeit?

Hamid Sulaiman, Ohne Titel, 2016, 42 x 29,5 cm, Tusche und Filzstift auf Papier
© Galerie Crone / Hamid Sulaiman

Doch genau das passiert um uns herum tagtäglich. Ständig sprechen Menschen über andere Menschen, meinen, ihre Nöte und Ängste zu kennen, meinen zu wissen, was richtig und was falsch für sie ist, machen sich zu deren Sprachrohr. Vorurteile, Ängste und vor allem Verallgemeinerungen schaffen dabei aber nur extreme Fronten und (Meinungs-)Lager. Zwischen diesem Entweder – oder scheint es keinen Weg zu geben. Aber genau diese Spaltung ist das, was ich das Gegenteil von Heimat nennen würde.

Migrationsbewegungen sagen nicht nur etwas über die Lebenswirklichkeit derjenigen aus, die ihre Heimat – aus welchen Gründen auch immer – hinter sich lassen. Sie werfen auch ein Licht auf die Gesellschaft, in der die Menschen ankommen. Der Regisseur Billy Wilder, der 1933 aus Berlin emigrierte, sagte über seine neue Heimat, die USA: „Amerikaner werden misstrauisch, wenn man nicht einer von ihnen werden will – im Gegensatz zu den Franzosen, Engländern, Schweden und den meisten anderen Völkern, die es gerade misstrauisch macht, wenn man zu ihnen gehören möchte."

Ich möchte auch gar nicht, dass sich das ändert. Nein, ich möchte eine Heimat haben, in der ich beides sein kann: das, was ich war, und das, was ich geworden bin und noch werde.

Was Wilder an dieser Stelle beschreibt, ist das Selbstverständnis der USA als Einwanderungsland. Auch dort war die „Willkommenskultur“ nicht immer frei von Spannungen, dennoch wurden die USA Heimat für Millionen von Einwanderern, weil sie sich darüber definierten, Menschen aus aller Welt aufzunehmen. Und wenn Wilder von dem Misstrauen spricht, das die meisten europäischen Gesellschaften erfasst, wenn man zu ihnen gehören möchte, dann stellt er damit auch an uns die Frage, wie wir uns und unsere Heimat künftig definieren wollen. Und wir müssen uns dieser Frage stellen. Sie kann aber nur im Dialog aufgelöst und beantwortet werden. Einem Dialog, der die Mitte nicht ausschließt und nicht nur von den Rändern her geführt wird. Einem Dialog, in dem vollkommen verschiedene Meinungen zu einer zusammenfinden. Denn die Vielfalt muss nicht immer einen Widerspruch darstellen, an dem man sich unweigerlich schneidet.

Auch wenn die meisten Menschen sich enttäuscht zeigen, wenn ich auf die Frage, in welcher Sprache ich denn träume, sage, in beiden: Es ist die Wahrheit. In beiden, je nach Kontext, je nach dem Ort, wo mein Traum angesiedelt ist, mit welchen Menschen ich mich in meinem Traum unterhalte. Ich möchte auch gar nicht, dass sich das ändert. Nein, ich möchte eine Heimat haben, in der ich beides sein kann: das, was ich war, und das, was ich geworden bin und noch werde. Eine Heimat, in der daraus kein Widerspruch mehr entsteht. In der es selbstverständlich ist, dass wir alle, dass ich, meinesgleichen und meines-ungleichen dazugehören. Weil sich in ihr Heimisches und Fremdes zu etwas ganz Neuem vermischen. Etwas, das jene Selbstverständlichkeit hat, aus der allein ein Heimatgefühl erwachsen kann.