Neu entdeckt: Das unkonven-tionelle Leben der Marianne von Preußen

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Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz haben zwei Mitarbeiterinnen hunderte von Druckgrafiken, Zeichnungen und Fotografien bearbeitet. Sie zeigen: Die preußische Prinzessin war eine starke Frau

Was für ein großartiger Zufallsfund! Als Marie-Luise Adlung, erfahrene Archivarin im Geheimen Staatsarchiv, durch die langen Reihen des Außenmagazins am Berliner Westhafen geht, fällt ihr ein gelber Zettel auf, der zwischen verschiedenen Mappen in einem Regal liegt. „Wahrscheinlich BPH, Rep. 60 I“, steht da von Hand geschrieben. „Ich habe mich richtig erschrocken: Oh Gott, was ist das denn?“ erzählt Adlung.

Zusammen mit Kollegen untersuchte sie den Stapel. Sie fanden unverpackte Mappen ohne Signatur - ungewöhnlich für das Geheime Staatsarchiv. Ein Haufen, „bestimmt 40 Zentimeter hoch und 1,5 Meter breit“. Adlung hatte mehrere Monate damit verbracht, den Nachlass des Prinzen Albrecht d. Ä. zu erschließen, dem jüngsten Kind des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise, dem Bruder des Königs Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Wilhelms I. Daher wusste sie: „BPH, Rep. 60 I“ – das war der Bestand des Prinzen Albrecht d. Ä. im Brandenburg-Preußischen Hausarchiv (BPH). „Aber die Magaziner im Westhafen hatten mir offenbar nicht alles herausgesucht und nach Dahlem ins Archiv geschickt. Diesen Stapel hatten sie nicht wahrgenommen, sicher weil der gelbe Zettel so unscheinbar war.“

Fünf Jahre ist das jetzt schon her, und längst ist klar: Diese Drucke und Zeichnungen, Noten, Bücher und Fotografien, die Adlung da zufällig gefunden hatte, gehörten wohl der Frau des Prinzen Albrecht d. Ä.: der Prinzessen Marianne von Preußen. Ausgerechnet Marianne, dieser starken Frau mit ihrer ungewöhnlichen Lebensgeschichte, die 1849 von ihrem Mann geschieden, vom preußischen Hof verbannt und von ihren Kindern getrennt wurde, die mit ihrem Leibkutscher und späteren Kabinettssekretär Johann van Rossum ein neues Glück fand, die durch halb Europa und vor allem durch Italien reiste und die schließlich, mit 45 Jahren, das Schloss Reinhartshausen in Erbach im Rheingau erwarb und ausbauen ließ.

Ausgerechnet Marianne, deren Vater König Wilhelm I. der Niederlande war. Ausgerechnet sie, die sich persönlich um die Verwaltung ihrer Villen, Schlösser und Besitzungen kümmerte, diese wohlhabende, unabhängige Hochadelige mit dem großen Kunstverständnis, das ihre Mutter sie gelehrt und das sie an ihre Kinder weitergegeben hatte. Das ist vielleicht das eigentlich Ungewöhnliche dieses Fundes: Dass er all die – pardon – staubigen Akten der brandenburg-preußischen Verwaltung, die das Geheime Staatsarchiv verwahrt, durch herrliche, auch großformatige Bilder, darunter Unikate wie Zeichnungen oder Fotografien bereichert, dass er sozusagen die Sonne Italiens bis nach Preußen scheinen lässt!

Graphitzeichnung einer altertümlichen Reisegesellschaft
Reisegesellschaft in Italien (Skizze nach dem in der Sammlung Schloss Reinhardtshausen befindlichen Gemälde "Marianne auf Bergtour"). Undatiert (wohl um 1850) Signatur: BPH, Rep. 60 I, Nr. 136/3 © Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Anja Wagner
ALtertümliche Lithographie einer adligen Frau
Marianne von Preußen (1810-1883) als junge Frau. Undatiert (wohl um 1830) Signatur: BPH, Rep. 60 I, Nr. 125/3 © Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Anja Wagner
Graphit- und Pinselzeichnung eines kleinen Schlosses
Kamenz, Schloss (K. F. Schinkels Entwurf 1838, eingeweiht 1873; Bauherrin Marianne von Preußen). Undatiert, BPH, Rep. 60 I, Nr. 151/3 © Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Anja Wagner
Fotografie eines Schlosses
J. Weissbach: Jagdschloss Weißwasser (damals Österreich-Schlesien, seit 1854 im Besitz der Marianne von Preußen). Undatiert, BPH, Rep. 60 I, Nr. 119/3 © Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Anja Wagner
Geheimes Staatsarchiv PK in Berlin-Dahlem
© GStA PK/ Christine Ziegler; Joachim Kirchmair

Bis zu dieser Erkenntnis allerdings war es noch ein ganzes Stück Arbeit: Denn die Blätter mit den Ansichten italienischer Landschaften, die Bücher mit den Fresken aus dem Vatikan, die Porträts der europäischen Herrscher waren in einem schlechten Zustand. Manche waren zerrissen. Aus zusammengeknüllten Papieren bröselte der Dreck. Jedes Blatt musste von den Restauratorinnen des Staatsarchivs fachgerecht gereinigt, manchmal abgesaugt, gesäubert, geglättet, entwest werden.

„Wir hatten den Eindruck, jemand habe mit Schuhen auf die Blätter getreten“, sagt Marie-Luise Adlung. Die Archivarin begann, die Blätter zu sortieren und lose Konvolute zu bilden, zum Beispiel mit topografischen Ansichten Deutschlands oder Porträts der Mitglieder des preußischen Königshauses. Und immer wieder fragte sie sich: Was ist hier eigentlich passiert?

Es ist eine richtige Detektivgeschichte. Die Forscherin und ihre Kolleginnen und Kollegen wollen wissen: Welchen Weg haben die Blätter genommen, bis sie schließlich vergessen in jenem Archivregal im Westhafen landeten? Und wie lässt sich zeigen, dass sie, so ganz ohne Beschriftung und Notiz, zum Nachlass der preußischen Marianne gehörten? Die Archivarin sprach mit früheren Mitarbeiterinnen, die mit dabei waren, als alle Bestände des Geheimen Staatsarchivs nach der Wende aus ihrem Quartier in Merseburg zurück nach Berlin kamen.

Dorthin waren sie im Krieg ausgelagert worden, jahrzehntelang gehörten sie zur staatlichen Archivverwaltung der DDR. Aber niemand konnte sich an diesen bestimmten Stapel erinnern – dabei hätte er auffallen müssen, so groß und ungewöhnlich wie er war. Waren die Sachen Mariannes also vielleicht gar nicht in Merseburg? Kamen sie vielleicht über Umwege aus Mariannes Schloss im schlesischen Kamenz, das einer der Söhne nach ihrem Tod übernahm, samt einem Teil ihres Nachlasses – und das nach dem Krieg in Flammen aufging?

Schließlich suchte sich Marie-Luise Adlung Unterstützung: Ihre Kollegin Claudia Czok, eine erfahrene Kunsthistorikerin, früher viele Jahre im Kupferstichkabinett tätig, ermöglichte einen weiteren Zugang zu dem Fund. „An den gedruckten Blättern, den Handzeichnungen und Fotografien lassen sich deutlich die Etappen des Lebens der Marianne erkennen“, sagt sie.

Und stellt fest: Die Orte, an denen sich die preußische Prinzessin aufgehalten hat, lassen sich nachvollziehen, genauso die zahlreichen Reisen, die sie unternahm. Niederländische oder deutsche Künstler, die sie traf oder bewunderte, haben ihre Spuren hinterlassen. Zu finden sind dabei: Architekturzeichnungen von Mariannes Villa am Comer See, Skizzen jener Bildhauer, die Kirche und Grabmäler bei Schloss Reinhartshausen für die Prinzessin ausgestaltet haben, Notenblätter mit Klavierauszügen nach Mozart und Gluck, eine regelrechte Galerie der niederländischen Vorfahren Mariannes.

Auch Blätter des Zeichenlehrers ihrer Mutter lassen sich finden – zusammen mit Bleistiftzeichnungen, die darauf hindeuten, dass sich hier jemand mit dem Erlernen des Zeichnens beschäftigte. Vielleicht Marianne selbst? Besonders begeistert ist die Kunsthistorikerin über ein rund fünfzig Blatt zählendes Mappenwerk mit kolorierten Lithografien, das italienische Volkstrachten in all ihrer Farbenpracht zeigt. So löst sich langsam das Rätsel. „Solche Bilder zeigen, dass Marianne einen stark ausgeprägten, eigenen Kunstgeschmack hatte,“ erklärt Czok. „Zum Beispiel lautete die ästhetische Frage jener Zeit: Magst Du eher Michelangelo oder Raffael? Hier ist es klar: Marianne mochte eher Raffael.“

Doch nicht nur Mariannes Kunstsinn, auch ihre Persönlichkeit faszinieren die beiden Forscherinnen. „Der Fund zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, wie unkonventionell das Leben der preußischen Marianne gewesen ist“, sagt die Kunsthistorikerin Czok. Vor allem aber bietet er reichlich Material für weitere Nachforschungen: für Historiker, Musikwissenschaftler und Fotospezialisten – und sicher auch für die Genderforschung. Schließlich ist die Art, wie Marianne ihre Kinder noch aus der Verbannung heraus förderte und mit ihnen Kontakt hielt, höchst beeindruckend.

Inzwischen liegen die rund 650 Blätter des Fundes mit ihren unterschiedlichen Formaten und die 15 Bücher in neuen, perfekt passenden Mappen. Bis Ende dieses Jahres sollen sie allesamt in die Datenbank aufgenommen sein, inklusive Datierung und Zustand. Adlung und Czok, das interdisziplinäre Forscherteam in Sachen Marianne, haben den Zufallsfund nutzbar gemacht. Sie erhoffen sich weitere Erkenntnisse auch durch die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen im Museum der Marianne in Erbach - und natürlich mit den niederländischen Verehrerinnen der Prinzessin. Marianne soll ihren Lebensweg selbst einmal als einen Roman bezeichnet haben. Nach dem Berliner Fund wird er noch spannender.

Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz

Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz mit Sitz in Berlin-Dahlem verwahrt und erschließt als „Gedächtnis Preußens“ Urkunden, Akten, Amtsbücher, Karten und andere Dokumente aus über 800 Jahren (brandenburg-) preußischer Geschichte. Daneben verfügt es über eine Bibliothek mit etwa 190.000 Bänden.
Neben dem Erhalt und der Erschließung seiner Bestände leistet das Archiv durch eigene Publikationen einen Beitrag zu den Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Es bietet zudem Dienstleistungen für Wissenschaftler und für interessierte Laien. Darüber hinaus ist es das zentrale Verwaltungsarchiv für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Website des Geheimen Staatsarchivs – Preußischer Kulturbesitz


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