Busoni und Boccioni – Der Maestro und das Enfant terrible

11.11.2016Busoni und Boccioni – Der Maestro und das Enfant terrible

Zwei Größen der Moderne, zwei Lebensentwürfe: Der Komponist ein bedächtiger Theoretiker, der Maler ein ungestümer Freund der Revolution – und beide über Jahre befreundet. Warum eigentlich?

Von Silvia Faulstich

„Ich war bei den ‚Futuristen‘ und habe von einigen Sachen einen packenden Eindruck gehabt“, schreibt Ferruccio Busoni im März 1912 aus London an seine Frau Gerda in Berlin. Und meint „dieser Boccioni scheint mir der Stärkste; er hat ein Bild ‚die wachsende Stadt‘, das wirklich groß ist.“ In einem weiteren Brief vermittelt Busoni seiner Frau diplomatisch schonend, er habe das imposante Gemälde – es misst zwei mal drei Meter – gekauft und merkt an, es „steht in deinem Zimmer“.
„Dieser Boccioni“ war niemand anderes als Umberto Boccioni, einer der Köpfe der jungen Künstlergruppe der Futuristen. Durch Zufall kreuzt sich sein Weg in London mit Busonis, der dort Zwischenstation auf einer langen Konzerttour macht. Für Busoni, den gut etablierten Klaviervirtuosen, vernetzten Komponisten und Theoretiker sollte Boccioni, der aufstrebende Maler,  der einzige Künstler bleiben, dessen Werke er systematisch sammelte – obwohl er die Futuristen gern kritisierte. Die Ausstellung „Busoni. Freiheit für die Tonkunst!“ geht – unter anderem – Busonis ungewöhnlichem Kunstsinn auf die Spur. Mit Co-Kurator Michael Lailach (Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin) sprachen wir über eine ungewöhnliche Künstlerfreundschaft.

Porträt von Ferruccio Busoni um 1912, Staatsbibliothek zu Berlin, Mus.Nachl. F. Busoni P II,41
Ferruccio Busoni um 1912 © Staatsbibliothek zu Berlin

Der Reiz der Geschwindigkeit

Was stand da jetzt in Gerda Busonis Zimmer? Busoni hatte nichts Geringeres erstanden als  ein Paradestück unter den Werken der Futuristen – jener jungen Künstler aus Italien, die gemeinsam durch Westeuropas Metropolen tourten. 1909 gründete sich die Gruppe um den charismatischen Literaten Filippo Tommaso Marinetti, der schnell Anhänger in anderen Gattungen fand – in der Malerei, Skulptur und Musik.

Boccionis „Wachsende Stadt“ (ital. „La città che sale“) entstand 1910, kurz nachdem das Manifest der Gruppe durch die Druckpressen gegangen war. Das Bild brachte die Ideale der Futuristen auf den Punkt: Fernab der Konvention die schwindelerregenden Neuerungen des modernen Lebens in die Kunst zu übersetzen. Seine Vision der dynamischen Metropole verlagert Boccioni an die Ränder Mailands, fern von schillernden Boulevards, belebten Straßen und geschäftigen Fußgängern. Vor dem Skelett eines emporwachsenden Elektrizitätswerks manifestiert sich seine Stadt in den kraftverzerrten Gliedern gesichtsloser Werksarbeiter und sich aufbäumenden Zugpferden. Energiegeladen, unaufhaltsam – ein flirrender Strudel aus Körpern und Farbe. Boccionis Bild war ein Fest für die Augen und für seine Zeit unerhört: Er vergöttert die zerfallende Form, zerlegt die Bildfläche, pfeift auf die Tradition.

Die Werbetrommel rund um die Werke rührt Marinetti, seine Futuristen wirken durch ihre Skandale. „Marinetti war der Impresario der Futuristen und hat die Gruppe sehr straff geleitet“, betont Michael Lailach. „Man weiß von ihrer Ausstellungstournee in Paris, dass Tausende Besucher pro Tag kamen. Sie haben eigentlich nicht so gut verkauft, aber alle wollten die Skandalbilder und die zugehörigen Künstler sehen.“ Aggressiv, verrückt, kapriziös – so erlebt Europas Kunstpublikum die jungen Wilden aus Italien in ihren Shows: „Marinetti hat flammende Vorträge gehalten, war politisch radikal, man hat sich geprügelt, man hat sich beschimpft – Skandal gehörte zur Strategie,“ so Lailach.

Zitat

„Busoni war ein zurückhaltender, bedächtiger Mensch. Warum er plötzlich begann, Boccionis Arbeiten zu sammeln, wissen wir bis heute nicht genau.“ Michael Lailach

Dass auch Busoni sich für die Kunst der Futuristen interessierte, ist für Kurator Lailach umso erstaunlicher: „Busoni war ein zurückhaltender, bedächtiger Mensch. Warum er plötzlich begann, Boccionis Arbeiten zu sammeln, wissen wir bis heute nicht genau.“ Die Tausende von Briefen, die in Busonis Nachlass erhalten sind, geben keinen Hinweis darauf, was ihn an Boccionis Werken reizte.

Schnittmengen und Gegensätze

1912 blickt Busoni bereits auf eine zwei Jahrzehnte andauernde Karriere zurück. Als Virtuose am Klavier füllt er Konzertsäle in den Metropolen dies und jenseits des Atlantiks, er komponiert, schreibt, ist rastlos. „Aufstehen, Reisen, ankommen, drei Stunden Klavierspielen fürs Publikum, schlafen gehen, in der Nacht zum Weiterreisen aufbrechen, ankommen, das nächste Konzert… Das hat Busoni über Jahre durchgehalten. Und in dieser Reisezeit hat er viel gelesen, war ein äußerst beliebter Gesprächspartner und sehr breit interessiert“, bemerkt Lailach und verweist auf die Wohnung des Wahlberliners am Viktoria-Luise-Platz Nr. 11: Hier übersetzt Busoni die Werke Bachs für das Klavier des 20. Jahrhundert, streitet mit Arnold Schönberg und bewirtet den musikalischen Nachwuchs Europas. Aber in diesen Räumen treffen auch Renaissance-Kopien auf meditierende Buddhas, blicken Engel von Reliefs am Türsturz, stapeln sich Prachtbücher vor fein verziertem Mobiliar – und dazwischen Boccionis Vision der modernen Stadt. Nicht nur Busonis musikalische Arbeit changierte zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sein Sinn für Kunst auch.

Bildnis Musikzimmer von Ferruccio Busoni, um 1912
Musikzimmer von Ferruccio Busoni, um 1912 © Staatsbibliothek zu Berlin, Mus.Nachl. F. Busoni P II,33

Jugendstil-Künstler wie Heinrich Vogeler und Joseph Sattler gestalten aufwändige Titelblätter zu seinen Notendrucken. Max Oppenheimer porträtiert ihn als Musikgenie. Emil Orlik, der Maler und Grafiker mit der Vorliebe für japanische Holzschnitte, bebildert Busonis Version der Oper „Turandot“. Und Busoni komponiert nicht nur seine Opern, so Kurator Lailach, sondern hat klare Vorstellung zu Text und Bühnenbild: „Er war überzeugt, dass die Oper ein Gesamtkunstwerk darstellt, das Theater, Musik und bildende Kunst vereint. Busoni kreuzte in seinen Opern deshalb die Gattungen: Er verstand sich als sein eigener Autor und schuf nicht nur die Musik, sondern verfasste auch Libretti und machte sich Gedanken zur Gestaltung des Bühnenbildes.“

Mit diesen Ideen streifte er ästhetische Debatten der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für viele von ihnen galt es, angestammte  Gattungsgrenzen zu durchbrechen. Die Futuristen waren dabei keine Ausnahme: So liebäugelt der Futurist Pratella  mit Mikrotönen, fertigt sein Kollege Russolo neuartige Lärmerzeuger und träumt Carrà von Klang als Farbe und Farbe als Klang und überhaupt von Sehen und Hören vermischt als „totale Malerei“. Ab 1910 betritt auch Boccioni neues Terrain. Der Maler macht den Rhythmus dynamischer Bewegungen zu seinem Kernthema, experimentiert mit Skulptur und kreiert fragmentierte Figuren, die mit ihrer Umgebung verschmelzen.

Auszug aus Carlo Carràs Kapitel in Marinetti, Filippo T. [et. al.], „I Manifesti del futurismo" (1914), S. 154.
Auszug aus Carlo Carràs Kapitel in Marinetti, Filippo T. [et. al.], „I Manifesti del futurismo" (1914)

Polternd verkünden die Futuristen die künstlerische Revolution. Busoni wird hellhörig. Er selbst sucht seit Beginn des noch jungen Jahrhunderts nach neuen Ausdrucksformen, möchte die etablierten Tonsysteme erweitern und außerhalb des Korsetts der Dur- und Molltonleitern denken – und ihn interessiert, was die junge Künstlergeneration zur Musik, zum Theater, zur Kunst zu sagen hat.

Dennoch ist seine Beziehung zum Futurismus keine einfache: Die aufbrausenden Traktate der Gruppe im Hinterkopf, meint Busoni 1912 in seinem Artikel „Futurismus der Tonkunst“: Trotz aller revolutionärer Gedankenspiele zur Musik müsse sich die Gruppe erst beweisen, denn noch ließen überzeugende Kompositionen auf sich warten. In den Briefen an seine Frau Gerda bringt Busoni seine Haltung schließlich auf den Punkt: Die Futuristen seien „tout passé“ – auch schon wieder vorbei.

Für Kurator Lailach ist Busonis Urteil Ausdruck einer bewusst distanzierten Neugier: „Ein Busoni konnte nicht damit leben, dass ein Marinetti sagt‚ zerstört die Museen, verbrennt die Mona Lisa. Als geschätzter Bearbeiter früherer Komponisten trug er die Vergangenheit in die Gegenwart. Er wollte sie nicht beiseite wischen. Die Futuristen aber proklamierten den klaren Bruch mit der Vergangenheit, um etwas Neues zu schaffen. Das Drama dabei ist, dass sie dabei wiederkehrende Verfahren und einen Stil ausgeprägt und gefestigt haben. Der Bruch mit dem Alten wird damit selbst zur Geste und in der Wiederholung der Geste zur Konvention. Busoni hat das erkannt. Er sah, dass die Futuristen unglaublich laut waren, aber dass der Anspruch, dauerhaft mit dem schon Dagewesenen zu brechen, eigentlich nicht haltbar war.“

Der Futurist, der keiner war

Aller Differenzen zum Trotz sammelt Busoni weiterhin Werke Boccionis – darunter zahlreiche Radierungen und Zeichnungen. Boccioni erwidert die Unterstützung mit ehrerbietiger Dankbarkeit, wie Kurator Lailach betont: „Er wusste um die exponierte Rolle Busonis in der Öffentlichkeit. In seinen Briefen begrüßt er ihn als ‚Maestro‘.“ Gerda steht Boccioni Modell und auch der Förderer wird von dem Maler in Szene gesetzt. 1916 entsteht das letzte Bild für Busoni.

„Beide wurden im August 1916 von einem Herrn mit dem schönen Namen Casanova auf dessen Sommersitz am Lago Maggiore in Norditalien eingeladen“, erzählt Lailach. „Dort verbrachten sie zwei Wochen. Das führte zu einem Porträt, das Busoni ganz entspannt in Intellektuellenrobe im Grünen zeigt.“ Doch die italienische Idylle trügt. Der Erste Weltkrieg hat sowohl Busoni als auch Boccioni längst eingeholt – der Eine ist Pazifist und längst im Schweizer Exil, der Andere mitgerissen vom Kriegstaumel, zieht freiwillig an die Front.

Für die jungen Wilden war der Kriegsausbruch ein begrüßter und logischer Schritt Richtung moderner Welt. Michael Lailach meint dazu: „Der Futurismus trat mit dem Krieg in eine zweite Phase ein, in der frühe radikale politische Tendenzen der Gruppe hervorbrechen.“ Doch unter Boccionis Euphorie mischt sich schnell Ernüchterung. Die Realität des Krieges hat ihn eingeholt und er sehnt sich danach, Kunst zu schaffen, sucht neue Ausdrucksmittel: „Dass Boccioni auf Kurssuche war, sieht man auch in seinem Porträt Busonis“, meint Lailach. „Er reduziert hier viele seiner futuristischen Stilmittel und besinnt sich auf sein großes Vorbild aus dem 19. Jahrhundert: Cézanne .“

Umberto Boccioni, Brief an Ferruccio Busoni vom 12.08.1916
Umberto Boccioni, Brief an Ferruccio Busoni vom 12.08.1916 (Auszug) © Staatsbibliothek zu Berlin

Im Wechselbad der Gefühle schreibt Boccioni am 12. August – kurz nach dem Intermezzo am Lago Maggiore und bereits zum Kriegsdienst eingezogen – an Busoni: „Diese ganze Phase meines Lebens lang stand ich unter Ihrem Einfluss und Ihnen verdanke ich den Frieden und die Stille dank derer ich dieses schreckliche Leben überstehen kann.“ Er gibt sich optimistisch, aber schließt: „Von Kunst kann ich hier nicht sprechen. Die Anstrengung ist groß und das Gehirn funktioniert nicht mehr.“

Vier Tage später stürzt Boccioni beim Training vom Pferd und stirbt – und wird so für Italiens Presse zum Kriegsheld. Seinen Freund, den Künstler, findet Busoni in den Nachrufen aber nicht wieder. „Es bestürzte ihn, dass nicht der Künstler Boccioni in Italiens Presse gewürdigt wurde, sondern Boccioni der Soldat“, so Lailach. „Deshalb meldete er sich zu Wort und versuchte, das Andenken an Boccioni gerade zu rücken.“

Doch längst ist Busonis Arbeit selbst Teil der Grabenkämpfe der Zeit:  1916 legt er seinen euphorischen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ neu auf – und fordert darin die Freiheit der Musik von festgefahrenen Gestaltungsnormen. Als Antwort holt der Kritiker und Komponist Hans Pfitzner 1917 zum Rundumschlag gegen Europas Avantgarden aus. Seine Polemik betitelt er „Futuristengefahr“, erklärt Busoni zum Sinnbild einer Musik fernab „deutscher Werte“ und diffamiert ihn dröhnend als ‚Futuristen‘ par excellence ohne Sinn für die musikalischen Größen der Vergangenheit.

Für Busoni ist das ein Affront. „Er, der vielgereiste Wahlberliner, ein Kind des 19. wie auch des 20. Jahrhunderts, wurde damit nicht nur in die Rolle des ewig Fremden gedrängt, sondern auch mit einem künstlerischen Etikett versehen, dem er Zeit seines Lebens ambivalent gegenüber stand“, erklärt Lailach.

Busoni erwidert im Juni 1917 in einem offenen Brief: „Der Futurismus, eine Bewegung der ‚Gegenwart‘, konnte zu meinen Argumenten keine Beziehung haben.“ Gemeint sind die Musikutopien der Gruppe um Marinetti, nicht die Avantgarden im Allgemeinen. Busoni, der Meister der feinen Zwischentöne, akzeptiert weder Pfitzners Rundumschlag gegen die Moderne, noch lässt er dessen abgezirkeltes Kunstbild unkommentiert. Das Wesen der Kunst, so kontert er, empöre sich „gegen die Starrheit einer einzigen Form für alle Ideen: heute bereits, und wieviel mehr in kommenden Jahren.“

Banner zur Ausstellung Busoni. Freiheit für die Tonkunst!
© SPK / linksbündig

„BUSONI. Freiheit für die Tonkunst!“

Der Katalog zur Ausstellung – ein Musikerleben in 14 Essays

Vom 4. September 2016 bis 8. Januar 2017 erzählte die Ausstellung in der Kunstbibliothek in 11 Stationen aus Busonis Leben und Wirken: vom „Wunderkind” zum „Lehrer”, von den „Reisen” ins „Exil”. Sie wurde organisiert durch die Staatsbibliothek zu Berlin, das Staatliche Instituts für Musikforschung und die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin. Der Katalog vertieft die Ausstellung und beleuchtet erstmals Busonis universalistisches Interesse an Musik, Kunst und Kultur seiner Zeit.

Außenansicht der Kunstbibliothek
Die Kunstbibliothek am Kulturforum © Staatliche Museen zu Berlin / M. Meisse

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